Patrick Liesching sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro, hebt den rechten Unterarm, schiebt Jackett und Hemd zurück und sagt: „Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Liesching hatte seine erste Stelle als Strafrichter im osthessischen Fulda angetreten, im Sitzungssaal ging es um ein Sexualdelikt: Das Opfer war eine Frau mit einer geistigen Behinderung, eine Erwachsene auf dem geistigen Stand eines Kindes. Der Täter war in der Nacht aus der Haft entlassen worden und hatte die Frau abgefangen, die gerade auf dem Weg zu ihrer Arbeit in einer Werkstatt war. „Wir mussten von ihr erfragen, was passiert war. Aber in ihrer kindlichen Sprache fehlten ihr die Worte dafür, sie konnte nicht ausdrücken, was ihr widerfahren war. Das hat mich sehr bewegt und sehr angefasst“, sagt Liesching.
Petra Klein im Portrait: Sie will die Stimme der Basis sein
Eine undurchschaubare „Sphinx-Fassade“ müsse man in dem Amt aufrechterhalten, „es hat mich immer wieder nachdenklich gemacht, dass man sich als Richter nicht mit Opfern solidarisieren kann.“ In einem anderen Prozess, es ging um einen Mordversuch an einer Frau, wurde die Betroffene vom WEISSEN RING begleitet, Liesching erfuhr, wie die Organisation half. Da wusste er: „In diesen Verein muss ich rein.“
Was verrät sein Büro über Liesching?
Vor 17 Jahren war das. Er engagierte sich in der örtlichen Außenstelle und hatte „nie die Intention, Funktionär zu werden“. Doch bald wurde er erst Stellvertretender Landesvorsitzender in Hessen, dann Landesvorsitzender – und seit Mitte September hat der 50-Jährige das höchste Amt, den Bundesvorsitz, inne. Das Band, an dem während der Delegiertenversammlung sein Namensschild hing, hat Liesching in seinen Schlüsselbund eingehängt, den er auf den Tisch in seinem Büro gelegt hat; im Hauptberuf ist er Chef der Staatsanwaltschaft in Fulda.
Was kann ein Büro über den Menschen verraten, der es nutzt? Es gibt welche, die so aufgeräumt und anonym eingerichtet sind, wie die Personen, die in ihnen arbeiten, sich hinter einer zurechtgelegten Fassade verstecken. Und es gibt Arbeitszimmer, die nichts verstecken wollen. Patrick Lieschings Büro gehört zur zweiten Kategorie. In ihm sitzt einer, der sich seinen Kaffee lieber selbst mit der Maschine auf der Fensterbank brüht. An der Wand ein zurückhaltendes Ikea-Gemälde-Paar in Pastellfarben, vor Jahren gekauft, irgendwie sei es dann hier gelandet. Kaffeetasse und Mini-Wimpel: VfB-Merchandise. Er hält dem Verein die Treue, er stammt aus Stuttgart.
Das hört man auch, vor allem wenn er scherzt, und das tut er oft, dann schwäbelt es aus ihm heraus. „Humor ist wichtig, mit einem Halbsatz kann man manchmal viel Druck aus einer Situation nehmen“, sagt Liesching. „Das muss auch in einem Verein möglich sein, der sich für die Belange von Kriminalitätsopfern einsetzt, ohne dass wir gleich zum Karnevalsverein werden.“ Dafür ist für ihn auch Platz in Opfergesprächen: „Wenn man stundenlang miteinander spricht, kann es helfen, wenn man mal miteinander lacht.“ Lautes Lachen ist nicht Lieschings Sache, aber er lächelt über vieles. Er kann es auch über sich selbst – etwa über sein Scheitern bei der Zulassungsprüfung, er wollte ursprünglich Mathe und Sport auf Lehramt studieren: „Bei 1,92 Meter Körperlänge ist Bodenturnen eine sehr hohe Hürde.“ Nur Herrenwitze findet er nicht lustig, da wird er wieder ernst, zieht scharf die Luft ein und sagt: „Witze über das andere Geschlecht als Versuch, eine ernst gemeinte Diskriminierung hoffähig zu machen, das passt nicht in unsere Zeit.“
Die Jugend im Fokus
Was in diese Zeit passt: Nahbar und ansprechbar wolle er sein, sagt Liesching, jemand, hinter dem sich alle im Verein versammeln können, Haupt- wie Ehrenamt. Er hat selbst eine Leichtigkeit, eine Unprätentiosität inne, wenn er mit anderen spricht. Wenn er zuhört, nachfragt, dem Gegenüber auch etwas zurück- und von sich preisgibt. Bei der Bundesdelegiertenversammlung in Sachsen, gerade erst ins höchste Vereinsamt gewählt, hörte er sich später – die Lichter im Saal waren schon aus – geduldig die Kritik eines jungen Ehrenamtlichen an, dass im Vorstand Ostdeutschland zu schlecht vertreten sei.
Benedikt Wemmer: Warum der WEISSE RING Junge Mitarbeiter braucht
Die Jungen, sie sind ihm ein wichtiges Thema. Er, der selbst jünger wirkt, sprach schon vor den Delegierten über sie. „Wir müssen unseren Verein nicht wie in der Politik in Wahlperioden denken, sondern in Dekaden.“ Die Generation Eduard Zimmermann sei immer noch eine Säule des Vereins, aber in zehn Jahren wahrscheinlich nicht mehr da, „dann bricht uns viel Ehrenamt und Bekanntheit weg.“ Der Verein müsse jetzt die jüngeren Generationen an Bord holen, „dann kriegt das einen Drive“. Aber er weiß, dass er 50 Jahre alt ist; er maße sich nicht an zu wissen, wie die Jungen ticken, „aber wir haben junge Mitarbeiter, die das wissen.“
Liesching weiß, was Ehrenamt bedeutet. Das Engagement an der Basis hat ihn geprägt, nach wie vor geht er zu Treffen „seiner“ Außenstelle in Fulda. Mit Respekt erzählt er von den Leistungen der Ehrenamtlichen aus seinem Landesverband, die er persönlich kennt, von zwei Frauen, die parallel viele heftige Fälle reinbekamen: „Die klagen nicht, es gibt kein Nörgeln, sie machen das aus Überzeugung.“ Von einigen Ehrenamtlichen höre er, dass es immer mal sehr fordernd auftretende Opfer gebe, mit denen sie umgehen müssten. Nicht jedem sei klar, dass die Mitarbeitenden kein Geld bekommen und die Opferhilfe in ihrer Freizeit machen, aber vielleicht sei das auch zu viel verlangt von Menschen, die gerade Opfer geworden sind, meint Liesching.
Welche Themen Liesching angehen will
Das Ehrenamt habe ihn sehr verändert, sagt Patrick Liesching. Zum Beispiel: „Man bekommt ein anderes Verständnis für andere Generationen.“ Wäre er nicht im Verein, er würde sich umgeben mit Menschen aus dem Job, der Familie, seiner Peergroup. Durch den Verein aber höre er, wie junge Menschen sprechen, oder wie es ist, als Pensionär einen wichtigen Teil des Lebens, den Beruf, hinter sich zu lassen und im Ehrenamt Struktur für den Tag zu suchen. „Das sind Lebenswelten, mit denen ich mich jetzt, mit 50, sonst noch nicht befasst hätte“, sagt er nachdenklich.
Patrick Liesching denkt auch über sein Ich nach, das schimpfen könne, wenn es nicht gut läuft, ist kritisch mit dem eigenen Berufsstand: Opferschutz sei noch nicht in alle Bereiche der Justiz vorgedrungen. Er schnappt sich eines der dicken Gesetzesbücher, zitiert aus einer weit hinten in der Strafprozessordnung versteckten Vorgabe, dass Opfer über Versorgungsansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz zu informieren sind. „In der Praxis ist es fast so, als gäbe es diesen Paragrafen gar nicht.“ Er beschwert sich nicht, er tut etwas dagegen: Am Nachmittag wird er sich vor junge Juristinnen und Juristen stellen und 43 Folien zu „Opferbeteiligung im Strafverfahren“ an die Wand werfen – dieser Paragraf ist der allererste Punkt, um den es gehen wird.
#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im stich lässt
In seiner Amtszeit als Vereinsvorsitzender soll es ebenfalls um das Opferentschädigungsrecht gehen. Es habe durch die Veröffentlichungen des WEISSEN RINGS dazu „einen Einschlag“ gegeben, die Politik habe an verschiedenen Stellen reagiert, „da müssen wir jetzt dranbleiben.“ Wenn das reformierte Gesetz 2024 in Kraft tritt, „müssen wir im Blick haben, wie die Neuerungen umgesetzt werden.“ Auch Morde an Frauen, bei denen die Täter die Partner oder Ex-Partner sind, stehen auf Lieschings Agenda. Alle drei Tage stirbt in Deutschland eine Frau auf diese Weise, er weiß: „Es ist nicht irgendeine Statistik, man sieht, dass es ein Thema ist.“ Er selbst hat das in den vergangenen drei Jahren gesehen, in jedem Jahr gab es einen solchen Frauenmord im Zuständigkeitsbereich seiner Behörde in Fulda: „Das macht es so greifbar.“
An seinem Arbeitsort wohnt Liesching auch mit seiner Familie. Für sie ist jedes zweite Wochenende reserviert, denn ohne Planung gelingt die Balance zwischen Work und Life nicht bei seinen zwei Aufgaben – der hauptamtlichen für die Staatsanwaltschaft, der ehrenamtlichen für den WEISSEN RING. In Fulda fühlt er sich zu Hause. Er ist Mitglied in einem Chor mit Spezialisierung auf populäre Musik, Tenor ist seine Stimmlage, er kann aber auch im Bass aushelfen. Eventuell erwägt Liesching sogar, den örtlichen Fußballverein zu unterstützen, sollte dieser den Sprung in die 3. Liga schaffen. Sagt er und grinst.
Ein guter Scherz
Das tut er auch, wenn er auf die bronzefarbene Justitia auf seinem Schreibtisch angesprochen wird. Der Göttin der Gerechtigkeit hat er zwei kleine Kunststoff-Emojis in ihre Waagschalen gelegt, Symbole dafür, wie es laufen kann vor Gericht: entweder gut oder schlecht. Die Ergänzung der kleinen Skulptur um die bunten Figürchen ist ein Scherz, ein ziemlich guter sogar. Die Kombination ist eine Art Sinnbild Lieschings: Die Justitia steht für die Ernsthaftigkeit, mit der er von dem Gänsehautmoment berichtet, als er nichts für das Opfer mit der geistigen Behinderung tun konnte. Die Emojis stehen für das Humorvolle, wenn er Gespräche mit einem Halbsatz oder mehr auflockert. Und diese beiden Eigenschaften halten sich gegenseitig ziemlich gut in Balance.
Nina Lenhardt