Halbzeit der Ampelkoalition

Was hat die Regierung hinsichtlich Kriminalität und Opferschutz erreicht?

Vor zwei Jahren ging die Ampelregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP an den Start. Was hat sie seitdem in Sachen Opferschutz erreicht? Ein Überblick.

Foto: Michael Kappeler/dpa

Vor zwei Jahren ging die Ampelregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP an den Start, ihr Koalitionsvertrag trug den Titel „Mehr Fortschritt wagen“. Mehr Fortschritt versprachen die Parteien auch im Bereich Kriminalität und Opferschutz. Unter anderem kündigten sie eine politische Strategie gegen Gewalt, ein Gesetz gegen digitale Gewalt und eine Gesamtstrategie gegen Extremismus jeglicher Form an. Was hat die Regierung, Stand jetzt, tatsächlich umgesetzt, und was steht auf der Kippe? Schließlich steckt die Ampel tief in der Haushaltskrise und setzt nun bei vielem den Rotstift an, um Milliardensummen einzusparen. Die Redaktion des WEISSEN RINGS zieht eine kritische Halbzeit-Bilanz.

1) Politische Strategie gegen Gewalt

Für mehr Schutz vor Gewalt, insbesondere für Frauen und Kinder, stellte die Bundesregierung eine ressortübergreifende politische Strategie in Aussicht.[1] Dafür soll eine neue Koordinierungsstelle durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eingerichtet werden, die zusammen mit den Bundesressorts eine Gesamtstrategie entwickeln soll. Seit Februar 2023 erarbeitet ein Aufbaustab das Konzept für diese Stelle, teilte das BMFSFJ auf Nachfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS mit. Ziel der Koordinierungsstelle soll es sein, die Maßnahmen der Bundesregierung zum Gewaltschutz zu bündeln und zu verstärken und die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft sicherzustellen.

Doch an konkreten Umsetzungen mangelt es: So wurde zum Beispiel versprochen, einen Rechtsrahmen für die verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern zu schaffen.[2] Doch eingelöst ist dies noch nicht. Bislang ist die Finanzierung von Frauenhäusern in Deutschland nicht einheitlich geregelt – und freie Plätze in den Einrichtungen sind oft rar. Nach einer Datenauswertung des Recherchebüros „Correctiv.Lokal“ sind die Frauenhäuser in Deutschland überlastet und häufig komplett ausgebucht.[3] Zudem gibt es laut dem Verein „Frauenhauskoordinierung“ vor allem auf dem Land noch zu wenige Einrichtungen.[4]

Gemäß Koalitionsvertrag sollen auch die Bedarfe vulnerabler Gruppen wie Frauen mit Behinderung, geflüchtete Frauen oder queere Menschen berücksichtigt und die präventive Täterarbeit ausgebaut werden.[5] Details dazu stehen jedoch nicht fest.

Wann die nationale Gewaltschutzstrategie verabschiedet wird, ist offen. Im Herbst 2022 hat die Bundesregierung aber eine unabhängige Berichterstattungsstelle zu geschlechtsspezifischer Gewalt beim Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet, die zukünftig die staatlichen Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt beobachten und bewerten soll.[6]

2) Gesetz gegen digitale Gewalt

Hass und Hetze im Netz sind ein großes Problem: Immer wieder werden Menschen im Internet angegriffen, beleidigt oder bedroht. Die Auswirkungen für Betroffene sind enorm, aus Online-Gewalt kann zudem Gewalt im realen Leben werden. Doch noch haben Geschädigte wenige effektive Möglichkeiten, Hatespeech im digitalen Raum schnell beseitigen und unterbinden zu lassen. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung ein Gesetz gegen digitale Gewalt versprochen, um rechtliche Sicherheit für Betroffene zu schaffen.[7]

Noch ist kein Gesetz beschlossen, aber im Frühjahr 2023 hat das Justizministerium ein erstes Eckpunktepapier vorgelegt:[8] Opfer digitaler Gewalt sollen zukünftig einfacher Auskunft über die Verfasser rechtswidriger Inhalte erhalten – auf Anordnung eines Gerichts. So sollen Telekommunikationsunternehmen und Messengerdienste verpflichtet werden, Informationen wie die IP-Adresse, von der aus die Straftat begangen wurde, mitzuteilen. Damit können dann Täter identifiziert und auf Unterlassung oder Schadensersatz verklagt werden. Auch sollen Betroffene die Möglichkeit haben, per Gericht die vorübergehende Sperrung von Accounts verlangen zu können, wenn von diesen wiederholt schwerwiegende Persönlichkeitsverletzungen ausgegangen sind.

Aus dem Eckpunktepapier soll nun ein Gesetzentwurf entstehen. Wann dieser im Bundestag diskutiert und beschlossen wird, ist noch offen.

3) Kampf gegen Kindesmissbrauch

Durchschnittlich werden jeden Tag 48 Kinder Opfer sexueller Gewalt.[9] Angesichts dessen stellte die Ampelregierung bei ihrem Start in Aussicht, Kinder besser vor Missbrauch zu schützen. Unter anderem versprach sie, das Bundeskriminalamt im Kampf gegen Kindesmissbrauch zu stärken und die Informationsweitergabe zwischen den Ämtern und weiteren beteiligten Akteurinnen und Akteuren zu verbessern.[10] Konkrete Maßnahmen dazu sind nicht bekannt. Auch kündigte die Regierung an, das Amt der „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ gesetzlich zu regeln,[11] aber auch dieser Prozess steht noch aus. Das Amt selbst wurde 2010 durch einen Kabinettsbeschluss geschaffen, eine gesetzliche Grundlage fehlt bislang. Aufgabe der Beauftragten, derzeit Kerstin Claus, ist es, die Anliegen von Opfern und aller, die sich gegen Missbrauch engagieren, zu vertreten.[12]

Im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen brachte das Bundesfamilienministerium bisher zwei bundesweite Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen an den Start. Die Aktionen „Schieb den Gedanken nicht weg!“ und „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ haben das Ziel, dass Missbrauch im Alltag besser erkannt wird.[13]

4) Effizientere Gerichtsverfahren

Effizientere und schnellere Gerichtsverfahren sind ein weiteres Ziel der Bundesregierung. Zum Beispiel sollen Verhandlungen online durchführbar sein. [14] Dazu wurde ein Gesetz für den Einsatz von Videokonferenztechnik auf den Weg gebracht, das aber nun aufgrund von fachlichen Bedenken vom Bundesrat blockiert wird.[15]

Auch ein zweites Gesetz könnte scheitern. Justizminister Marco Buschmann plante für Strafprozesse, dass Bild- und Tonaufzeichnungen in Vernehmungen und Hauptverhandlungen künftig verpflichtend sein sollen.[16] Doch bereits der erste Gesetzentwurf wurde massiv kritisiert: Widerstand kam aus der Justiz und aus den Bundesländern, aber auch vom WEISSEN RING.[17]

Das Ministerium überarbeitete daraufhin das Gesetz, das jetzt nur noch Audioaufnahmen verpflichtend und Videoaufzeichnungen optional vorsieht. Doch nach der Verabschiedung im Bundestag wurde das Gesetz vom Bundesrat zunächst gestoppt.[18]

Wie es mit den beiden blockierten Gesetzen weitergeht, ist momentan offen. Sie werden nun im Vermittlungsausschuss diskutiert.[19]

5) Aktionsplan gegen Queerfeindlichkeit

Queerfeindliche Vorfälle haben in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht – im Jahr 2022 zählte die Polizeiliche Kriminalstatistik die meisten Angriffe gegen die sexuelle Orientierung seit 2001.[20] Den Kampf gegen Queerfeindlichkeit hatten die Ampelparteien auch im Koalitionsvertrag verankert.[21] Seitdem hat sich einiges getan: Seit 2022 erfassen Landes- und Bundespolizei Hasskriminalität aufgrund des Geschlechts und gegen queere Menschen separat.[22] Außerdem wurde der Aktionsplan „Queer leben“ für Akzeptanz und zum Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt vom Kabinett beschlossen.[23] Darin enthalten sind auch Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt, Übergriffen und Anfeindungen.

Im Zuge dessen wurde Queerfeindlichkeit als Tatmotiv in die Strafgesetze zu Hasskriminalität aufgenommen.[24] „Geschlechtsspezifische“ sowie „gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Motive waren vorher im Strafgesetzbuch nicht explizit erwähnt und fielen unter „sonstige menschenverachtende“ Beweggründe. Mit der Überarbeitung des Gesetzestextes sollen solche Fälle zukünftig besser geahndet werden können. Ein Verbot von Diskriminierung wegen sexueller Identität will die Ampelkoalition auch im Grundgesetz verankern[25], momentan liegt dazu allerdings noch kein Entwurf vor.

6) Kampf gegen Extremismus und Rassismus

Rechtsextremismus ist die derzeit größte Bedrohung unserer Demokratie – so heißt es im Koalitionsvertrag.[26] Allen verfassungsfeindlichen, gewaltbereiten Bestrebungen will die Regierung entschieden entgegentreten und Rassismus bekämpfen. Rassistisch motivierte Diskriminierung und Gewalt sind in Deutschland nach wie vor an der Tagesordnung: Täglich werden mindestens fünf Menschen Opfer von rechter, rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalt.[27]

Angesichts dessen kündigte die Ampelregierung eine Reihe von Maßnahmen an, die teilweise bereits umgesetzt wurden: So gibt es seit 2022 erstmals eine Antirassismus-Beauftragte und einen Antiziganismus-Beauftragten, der die Belange von Sinti und Roma in Deutschland vertritt.[28] Zudem wurde mit der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) eine unabhängige Monitoring- und Beratungsstelle eingerichtet, die antiziganistische Vorfälle bundesweit einheitlich dokumentiert und analysiert.[29]

Zur Extremismus-Prävention und Gestaltung von gesellschaftlicher Vielfalt hat die Regierung bereits Ende 2022 ein Demokratiefördergesetz auf den Weg gebracht.[30] Damit sollen Maßnahmen, die Demokratiefeindlichkeit und extremistischen Tendenzen frühzeitig entgegenwirken, Fördermittel erhalten und langfristig finanziell abgesichert werden. Doch da die FDP das Gesetz derzeit blockiert und unter anderem eine „Extremismusklausel“ fordert, ist es bis heute noch nicht verabschiedet.[31] Für zivilgesellschaftliche Projekte und Initiativen bedeutet das zunächst weiter Planungsunsicherheit, zumal die Demokratieförderung auch von der aktuellen Haushaltskrise betroffen sein könnte. Laut Familienministerin Lisa Paus steht zumindest die Finanzierung für die in ihrem Ministerium angesiedelten Demokratieprojekte für 2024.[32]

Im Hinblick auf terroristische Gewalt versprach die Ampelkoalition einen empathischeren und würdigeren Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen.[33] Die Koordinierungsstelle NOAH (Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe), die derzeit bei schweren Unglücksfällen und Terroranschlägen im Ausland deutschen Opfern psychosoziale Hilfe anbietet, soll zukünftig auch in Deutschland als Ombudsstelle dienen. Noch sind dazu jedoch keine Entscheidungen bekannt. Für die Opfer terroristischer Gewalt wurde 2022 ein Nationaler Gedenktag am 11. März geschaffen.[34] Dass es im Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen von Terroranschlägen aber noch große Defizite insbesondere bei den staatlichen Behörden gibt, hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt.[35]

Laura Hohmann


Quellen:

[1] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 114

[2] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 115

[3] Versperrter Ausweg – WEISSER RING e. V. (forum-opferhilfe.de)

[4] SPIEGEL-Ampelradar: Was hat die Ampel erreicht – und was hat sie noch vor? – DER SPIEGEL

[5] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 115

[6] Abteilung Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt | Institut für Menschenrechte (institut-fuer-menschenrechte.de)

[7] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 18

[8] BMJ – Gesetzgebung – Eckpunkte für ein Gesetz gegen digitale Gewalt

[9] Kriminalstatistik 2022 zu Kindesmissbrauch | Bundesregierung

[10] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 108

[11] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 99

[12] BMFSFJ – Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

[13] BMFSFJ – „Schieb den Gedanken nicht weg!“ Kampagne für ein Umdenken bei sexueller Gewalt gegen Kinder gestartet

BMFSFJ – „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ – Lisa Paus und Kerstin Claus starten zweite Phase der Kampagne gegen Kindesmissbrauch

[14] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 106

[15] BMJ – Gesetzgebung – Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten;

Gerichtsprozesse: Wie Bund und Länder um die Digitalisierung der Justiz ringen – DER SPIEGEL

[16] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 106;

BMJ – Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung – Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung

[17] Gerichtsprozesse: Wie Bund und Länder um die Digitalisierung der Justiz ringen – DER SPIEGEL;

Videokameras im Gerichtssaal „nur noch eine Option“ – WEISSER RING e. V. (forum-opferhilfe.de)

[18] Gerichtsprozesse: Wie Bund und Länder um die Digitalisierung der Justiz ringen – DER SPIEGEL

[19] Deutscher Bundestag – Gesetze zur Digitalisierung der Justiz müssen in den Vermittlungsausschuss

[20] „Wir sind doch alle tolerant, wozu braucht man ein Coming Out?“ 🏳️‍🌈 Zum heutigen Coming Out Day wollen wir darauf aufmerksam machen… | Instagram;

Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022 (bund.de)

[21] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 119, 106

[22] Seit 2022 wird Hasskriminalität vom Bundeskriminalamt getrennt nach den Themenfeldern „Frauenfeindlich“ und „Geschlechtsbezogene Diversität“ ausgewiesen: Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022 (bund.de)

[23] Queer leben (bmfsfj.de)

[24] BMFSFJ – Hasskriminalität gegen queere Menschen wird zukünftig besser geahndet

[25] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 121

[26] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 107

[27] Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2022 – Jahresbilanzen der Opferberatungsstellen – Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V (verband-brg.de)

[28] Antirassismus (integrationsbeauftragte.de);

BMFSFJ – Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung

[29] Über uns – Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (antiziganismus-melden.de)

[30] Kabinett beschließt Demokratiefördergesetz | Bundesregierung

[31] Demokratiefördergesetz: Stärkt es die Demokratie – oder schwächt es sie? – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de);

Ungeklärte Haushaltslage: Hilfeschrei der Demokratiearbeiter – taz.de

[32] Nach der Einigung zum Haushalt: Demokratieprojekte gerettet – taz.de

[33] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) Seite 107

[34] BMI – Presse – 11. März wird Nationaler Gedenktag für die Opfer von Terrorismus (bund.de)

[35] „Umgang mit Terroropfern muss sensibler werden“ – WEISSER RING e. V. (forum-opferhilfe.de)