Interview

„Wir brauchen mehr Justiz und mehr Polizei“

Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, spricht im Interview über Strafverschärfungen bei Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt in der Corona-Krise und über die zunehmende Hasskriminalität im Netz.

Foto: Christoph Soeder
Herr Ziercke, was macht der WEISSE RING? Was bewegt Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer in diesen Corona-Zeiten?

Das Corona-Virus hat auch beim WEISSEN RING die Abläufe durcheinandergewirbelt: Veranstaltungen
fielen aus, hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten ins Homeoffice wechseln, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten sich nicht mit Opfern treffen. Das Virus hat aber die Kriminalität nicht gestoppt: Die Corona-Unsicherheit wird für neue Betrugsmaschen genutzt, das Risiko von häuslicher Gewalt ist gestiegen. Umso wichtiger ist deshalb für uns folgende Botschaft: Der WEISSE RING ist für die Opfer von Kriminalität immer da – vor, während oder nach einer solchen Krise.

Sie haben zu Beginn des Corona-Lockdowns vor einer Zunahme der häuslichen Gewalt gewarnt, Zitat: „Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen“. Nach den ersten Corona-Monaten melden einige Behörden und Institutionen nun steigende Zahlen, viele andere verzeichnen aber gleichbleibende oder sogar sinkende Zahlen. Waren Sie zu pessimistisch?

Ich fürchte: nein. Häusliche Gewalt findet immer statt. Wir gehen aber davon aus, dass es während der Corona-Einschränkungen vermehrt zu Fällen gekommen ist. Aus Erfahrung wissen wir, dass sich Spannungen oft in Gewalt entladen, wenn Menschen auf engem Raum zusammensitzen und zusätzlich psychischen Belastungen ausgesetzt sind wie Ängsten um Gesundheit, Arbeitsplatz oder ihre Zukunft. All das liefert Corona.

Ziercke Porträt
Müssten die Fallzahlen dann nicht überall gleichermaßen merklich gestiegen sein?

Nein, die Gewalttaten müssen sich nicht schnell in sichtbaren Zahlen niederschlagen. Auch das wissen wir aus unserer langjährigen Erfahrung. Die Betroffenen melden sich nicht gleich nach der Tat und auch nicht auf einen Stichtag hin, etwa nach dem Beginn von Lockerungsmaßnahmen. Viele Betroffene leben jahrelang mit häuslicher Gewalt, bis sie sich Hilfe suchen. Studien zufolge benötigt eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau sieben Anläufe, um sich aus einer solchen Beziehung zu befreien. Es wird dauern, bis wir ein verlässliches Bild darüber haben, wie viel häusliche Gewalt es tatsächlich während der Coronakrise gab.

Ein anderes Thema, das die Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen sehr bewegt hat, ist der sexuelle Kindesmissbrauch. Nach den diversen Missbrauchsskandalen hat das Justizministerium nun Strafverschärfungen auf den Weg gebracht. Wie steht der WEISSE RING dazu?

Höhere Strafandrohungen haben häufig Symbolcharakter in der Politik, eine präventive Wirkung geht von ihnen zumeist nicht aus. Ich halte es aber für richtig, sexuellen Missbrauch an Kindern als Verbrechen einzustufen.


„Wer wegschaut, macht sich mitschuldig! Die Betreiber sozialer Netzwerke im Internet entziehen sich heute ihrer Verantwortung.“

Jörg Ziercke

Bislang gilt es strafrechtlich nur als Vergehen.

Richtig. Mit der Hochstufung erhalten die Ermittler effektivere Eingriffsinstrumente aus der Strafprozessordnung. Vorrangig ist aber die Prävention, und da gäbe es für die Politik einiges zu tun. Beispiele gibt es viele: Die Politik müsste die personelle Verstärkung von Justiz und Polizei auf Landesebene beschließen. Die Politik müsste in jedem Bundesland eine Landeszentralstelle Kindeswohl einrichten. Die Politik müsste dafür Sorge tragen, dass dort psychologisch geschultes Personal Informationen über Kindesgefährdungen entgegennimmt und dass ein Team von Mitarbeitern der Gesundheitsämter, von Kinderärzten, Therapeuten, Staatsanwälten und Kriminalbeamten diese Informationen bewertet.

Der Fall Bergisch Gladbach mit 30.000 Verdächtigen zeigt, welche Rolle Internet und Social Media beim Kindesmissbrauch spielen. Besteht nicht vor allem da dringender Handlungsbedarf?

Ganz klar: ja. Wer wegschaut, macht sich mitschuldig! Die Betreiber sozialer Netzwerke im Internet entziehen sich heute ihrer Verantwortung. Sie sollten bei Kinderpornografie, dem immer ein massiver Kindesmissbrauch vorausgeht, verpflichtet werden, dies zur Anzeige zu bringen und die Darstellungen zu löschen. Das gilt auch für Hass und Hetze im Internet. Dem muss aber eine viel breitere gesellschaftliche Debatte über ethische Standards im digitalen Raum vorausgehen. Ethik hat nämlich nichts mit Zensur zu tun. Wir schauen mit großer Sorge auf die galoppierende Entwicklung im Internet.

Sie haben zuletzt mehrfach sehr deutlich die Politik aufgefordert, stärker gegen Hass und Hetze im Internet einzuschreiten …

… weil wir es nicht hinnehmen dürfen, dass die Gesellschaft verroht! Hass und Hetze können nicht nur zu Gewalttaten und Mord führen – sie tun es längst! Denken Sie an den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, denken Sie an die Anschläge von Halle oder Hanau. Alle Täter haben sich zuvor im Internet in einem Umfeld von Hass und Hetze bewegt. Zum Teil haben auch politische Brandstifter hier eine Mitverantwortung. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich diese Leute nach solchen Taten einfach wegducken und die Verantwortung von sich schieben. Auch im Alltag ist eine Verrohung sichtbar. Das zeigt zum Beispiel die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik, die eine zunehmende Zahl von Straftaten gegen Amtsträger und Polizisten verzeichnet. Das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität ist ein wichtiger erster Schritt. Das allein reicht aber nicht aus.


„Wir treten der Politik auf die Füße. Das verbesserte Opferentschädigungsgesetz hätte es in dieser Form ohne die Einmischung des WEISSEN RINGS nie gegeben.“

Jörg Ziercke


Der WEISSE RING hilft Kriminalitätsopfern – ist es überhaupt seine Aufgabe, sich ins politische Tagesgeschäft einzumischen?

Bleiben wir beim Beispiel Hass und Hetze: Der WEISSE RING muss sich seit einigen Jahren immer häufiger mit den schlimmsten Auswirkungen von Hasskriminalität auseinandersetzen. Nach allen extremistischen Gewalttaten der jüngeren Vergangenheit waren unsere ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Opferhelfer vor Ort. Noch heute, dreieinhalb Jahre nach dem Anschlag, betreuen wir Opfer der Amokfahrt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Wir kennen ihre Sorgen und Nöte. Wir fordern deshalb vom Staat, aber auch von jedem einzelnen Bürger, dass er dieser bedrohlichen Entwicklung entschieden entgegentritt.

Der WEISSE RING positioniert sich eindeutig, so zum Beispiel mit dem Vorstandsbeschluss, dass niemand ehren- und hauptamtliche Funktionen im WEISSEN RING ausüben kann, der gleichzeitig öffentlich für Parteien oder Organisationen aktiv ist, die Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vertreten. Wie wichtig ist es, dass sich NGOs politisch einmischen?

Es ist sehr wichtig. Wir bringen unsere Expertise in aktuelle Gesetzgebungsverfahren ein, wir weisen auf Lücken im Sozialrecht hin, wir decken Fehler von Sozialträgern auf, wir treten der Politik auf die Füße. Das verbesserte Opferentschädigungsgesetz hätte es in dieser Form ohne die Einmischung des WEISSEN RINGS nie gegeben. Wir mahnen, kritisieren und fordern – im Zweifel auch laut. Das können wir, weil der WEISSE RING völlig unabhängig ist von staatlicher Unterstützung. Möglich ist das natürlich nur, weil uns andere mit ihrer Unterstützung diese Unabhängigkeit sichern: Mitglieder, Spender, Sponsoren.

Wir können uns darauf einstellen, dass sich der WEISSE RING künftig vermehrt politisch zu Wort meldet?

Auf jeden Fall.

Karsten Krogmann