Diepholz

Vom Loslassen

Es gibt viele Gründe, warum sich Ehrenamtliche beim WEISSEN RING engagieren. Bei Jutta und Werner Käding aus Diepholz ist es ein sehr trauriger. Ihr Sohn wurde 1999 unweit ihres Hauses getötet. Heute hilft das Ehepaar mit seiner Erfahrung anderen Betroffenen durch schwere Zeiten.

Foto: Tobias Großekemper

Man solle sich nicht wundern, so hatte es Werner Käding am Telefon erklärt, wenn das Navi einen in die Wildnis lotst. Denn: „Wir wohnen in der Wildnis.“

Wer sich also aufmacht zu Jutta und Werner Käding, sieht zunächst mal Störche und Maisfelder. Bauernschaften und Sonnenblumen. Kleine Wassergräben und Feldwege ins vermeintliche Nichts, dunklen Ackerboden. Man fährt und hofft, dass das Netz auch hier draußen stabil ist. Und währenddessen kommt aufgrund der zahlreichen Landlust-Szenarien die Frage auf, was denn hier, zwischen Osnabrück und Bremen, eigentlich für Straftaten passieren können, abgesehen vom Kuh-Schubsen und Milchkannendiebstahl?

Dann sitzt man kurze Zeit später in einem Wohnzimmer, der Blick geht weit, wie hier überall eigentlich.  An einer Hecke vorbei, auf ein Feld, hinten am Horizont eine Baumreihe: „Da, sehen Sie die Bäume?“ Am Fuße dieser Bäume starb der Sohn der Kädings.

Im August 1999 war das, der junge Mann hatte gerade seine Kochausbildung bestanden, es sollte gefeiert werden. Bei der Feier auch ein Tellerwäscher aus dem Restaurant, in dem der junge Koch gelernt hatte. Er näherte sich dem Sohn sexuell, der verweigerte sich, da wurde er erwürgt und anschließend mit einer Stange auf den Körper eingedroschen. Nach fünf Tagen fanden sie ihn, es waren gewittrige Tage damals, und ein Polizist sagte zum Vater: „Werner, tu dir das nicht an, sieh dir das nicht an.“ Was sie dann auch nicht machten und was ein Fehler gewesen sein kann – denn „dass ich, dass wir uns nicht verabschieden konnten, darunter haben wir alle gelitten“.  

Andere Betroffene verstehen

Ein Kind, das vor seinen Eltern geht, ist die Urangst aller Eltern. Der Verlust des Großen und Ganzen, der Ordnung, ein Abriss der Zeit – für Jutta und Werner Käding eine erschütternde Erfahrung. Sie kennen die Phasen des Trauerns, die Ohnmacht – und den Zorn. Er brachte sie zum WEISSEN RING, was vielleicht nicht die beste Antriebsfeder für eine ehrenamtliche Tätigkeit ist. Aber ein ernst zu nehmender Grund. Und ein großes Pfund in ihrer Arbeit mit anderen Opfern. Sie verstehen, was es heißt, ein Opfer zu sein.

„Schuld und Sühne“ sagt Käding und betont die Sühne so, dass man die Anführungszeichen quasi mithört. Nichts gegen die Polizei. Käding war elf Jahre lang Leiter der Ausländerbehörde von Diepholz, da kennt man sich. Er wurde hier 1953 geboren, seine Frau Jutta zwei Jahre später im Nachbarkreis. Und dass er 19 Jahre lang der 1. Vorsitzende des hiesigen Fußballvereins war, macht ihn in der Gegend auch nicht gerade unbekannter.

Also, nichts gegen die Polizei, die hat ermittelt, was zu ermitteln war, hat sich gleich auf die Suche nach dem Jungen gemacht, obwohl sie das nicht gemusst hätte. Aber die juristische Aufarbeitung, das Verfahren vor Gericht, das hatten sich die Kädings dann doch anders vorgestellt. Man sehe dann erst, sagt Herr Käding, wenn man selber in einem Gericht dabei ist, dass alles gesucht wird, was für den Täter spricht. Ausschließlich um ihn sei es gegangen. Eine Frau von der evangelischen Gefangenenhilfe habe sich um den Mann gekümmert. Bei den Kädings habe sich drei Mal ein Geistlicher angekündigt, gekommen sei er dann aber nie. Was an sich keine Katastrophe war, das erste halbe Jahr nach der Tat seien sie von Freunden und Verwandten nicht einen Abend allein gelassen worden. Aber merken tut man sich so etwas doch.

Täterzentrierte Justiz

Die täterzentrierte Justiz ist ein Problem in Deutschland, vor allem das Strafmaß und dessen Ermittlung sind von Interesse, Opfer und Opferangehörige eher wenig. Der Täter bekam dann zehn Jahre, und Familie Käding hatte das Gefühl, im Prozess deplatziert gewesen zu sein. Dabei hatten sie doch lebenslänglich bekommen, sagt Herr Käding. Und das, sagt Frau Käding, hört tatsächlich nie auf.

Die Zeit nach dem Prozess – dafür finden sie und er wenige Worte, eher Bilder. Der Weihnachtsbaum zum Beispiel, der all die Jahre nicht groß und prächtig genug sein konnte, kam nicht mehr ins Haus. Zu Feiern gingen sie dann doch irgendwann schon mal wieder, nahmen sich aber das Recht heraus, jederzeit zu gehen, wenn es ihnen zu viel wurde. Und an Silvester, da fuhren sie dann immer weg, weil es nach zwei, drei Jahren vorsichtig hieß, „jetzt könnt ihr doch langsam mal wieder“. Konnten sie nicht, wollten sie nicht. Man muss es so machen, sagt sie heute, dass man da am besten durchkommt. Man muss, sagt er, egoistisch werden. In den Entscheidungen, nicht im Leben.

2002 gingen sie zum WEISSEN RING. Opferwerdung, Opferschutz, das alles war ihr Thema geworden und ließ sie nicht los. Also konnte man das doch auch nutzen: erst Stände aufgebaut, Arbeit im Hintergrund, dann wurde es langsam mehr, und irgendwann waren sie halt richtig dabei. Zuhören, Opfer beraten, auf das vorbereiten, was vor Gericht kommen kann, die Menschen stark machen, sich Zeit nehmen – was das eigene Schicksal sie gelehrt hat, das müssen sie nicht alles weitergeben. Aber dem Menschen, der da hilfesuchend sitzt, das Gefühl vermitteln, dass da gegenüber zwei Menschen sitzen, die wissen, was Opfer sein bedeutet – das kann ein Eisbrecher sein.  

Schwerpunkt: Sexualdelikte

Gut 13 Jahre nach dem Tod des Sohnes brach zwar nicht das Eis der Kädings, aber ein zweiter Frühling kam in das alte Bahnwärterhaus im niedersächsischen Diepholz. Ihre Tochter brachte das erste Enkelkind zur Welt. Heute sind die Kädings dreifache Großeltern. „Die Kinder“, sagt Jutta Käding, „haben uns wieder ins Leben reingezogen.“ Sie hätten heute wieder mehr Lebensfreude, tolle Enkelkinder seien das, sie geraten ins Schwatzen über die Kinder, natürlich die besten der Welt, wie soll das anders sein? Glanz in den Augen beim Sprechen, begeistert, verliebt, vernarrt. Lebendig.

Jetzt also drei Enkelkinder und Außenstellenleiter beim WEISSEN RING in der Außenstelle Diepholz, was sich provinziell anhören mag, aber nur für Großstädter. Wer hier zu tun hat, lernt dann schnell, dass das Gebiet der Außenstelle so groß ist wie das Saarland. Hier, im Süden, an der Grenze zu NRW, sehr ländlich, im Norden einwohnerstarke Gemeinden bis an Bremen heran, da passiert natürlich auch mehr. Sexualdelikte machen einen großen Schwerpunkt ihrer gemeinsamen Arbeit der insgesamt 15 Kollegen der Außenstelle aus, Gewaltdelikte einen weiteren. Mal ist es ruhig, mal reihen sich die Fälle wie Perlen auf einer Kette, so richtig weiß man nie, was kommt.

„Jeduld und Jelassenheit“

Werner Käding, der ehemalige Beamte, steht inzwischen Behörden sehr kritisch gegenüber, wenn die mit Opfern zu tun haben. Mildtätigkeit, sagt er, kann dieser Staat einfach nicht. Genauso wenig wie Opferhilfe. Wenn sie heute zurückblicken, dann würden sie wieder zum WEISSEN RING gehen, vielleicht ein bisschen eher noch. Vielleicht auch nicht, denn man brauche, es folgt ein Konrad-Adenauer-Zitat: „Jeduld und Jelassenheit“. Geduld, da das Opfer das Tempo bestimmt. Immer. Und Gelassenheit, um sich nicht einfangen zu lassen von dem, was man hört, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht mitreißen zu lassen. Hinten am Horizont die Baumkronen, man kann sie sehen, wenn man sich anstrengt. Vorn, direkt vor dem Fenster, das Klettergerüst und das Trampolin für die vermutlich besten Enkelkinder der Welt.

„Man kann loslassen, das hat uns das eigene Schicksal gelehrt“, hat Jutta Käding irgendwann im Gespräch gesagt.

Man muss es vielleicht, um weiterzumachen. In diesem Jahr, am 9. August, war sie zum ersten Mal am Todestag des Sohnes auf dem Friedhof und hat dabei nicht geweint.

Tobias Großekemper