Der Job in dem Getränkemarkt ist manchmal stressig, besonders an Samstagen kann es recht voll dort werden. Der Laden liegt in einem guten Viertel von Nauheim, da wohne ich auch. Es ist für mich ein Studentenjob, die Schichten beginnen um 10 oder 16 Uhr, ich arbeite meistens in der Nachmittagsschicht. Ich ziehe mich um und dann muss ich meistens direkt an die Kasse. Ansonsten werden Getränke auf- oder Altglas weggeräumt und die Kühlschränke bei Bedarf aufgefüllt. Zu tun gibt es immer etwas. Der Tag, um den es hier geht, ist auch ein Samstag, Ende November 2020. Ich sitze an der Kasse, alles ist ganz normal, wie immer. Also mit den üblichen Corona-Regeln natürlich, Mund-Nasen-Schutz und Abstand halten. Ich hatte es bis dahin schon gelegentlich erlebt, dass Menschen diskutieren wollten, warum sie einen Wagen nehmen sollten. Zwei, drei Mal waren auch Kunden erschienen, die ein Attest vorlegten, demzufolge sie keinen Mund-Nasen-Schutz tragen sollen. Aber Streit, größere Probleme oder gar Gewalt hatte ich bis dahin nicht erlebt.
Gegen 17.40 Uhr kommt ein Mann in den Laden, er gibt zuerst sein Pfand ab und knallt den leeren Kasten irgendwie energisch auf die Palette. Das scheppert laut und kommt mir ein bisschen suspekt vor, aber jeder kann ja mal einen schlechten Tag haben. Der Mann ist sehr kräftig und hat in etwa meine Größe, ich bin 1,83 Meter groß. Ein bisschen auffällig ist dann noch, dass dieser Mann auf seinem Weg durch den Laden mit seinem Wagen Kisten rammt. Ob er das extra macht oder nicht, weiß ich nicht. Es ist noch ein weiterer Kunde im Laden, Typ Familienvater, der dann zu mir an die Kasse kommt mit seinen Einkäufen. Er will bezahlen, da taucht hinter ihm der andere Kunde auf. Aufdringlich wirkt das in dem Moment, er rückt ihm richtig auf die Pelle, vielleicht liegen noch 30 Zentimeter Abstand zwischen den Männern. Das ist ungewöhnlich in Pandemiezeiten, außerdem will der vorne stehende Kunde ja noch bezahlen. Mit seiner Karte. Es ist ein aggressiver Moment, so etwas spürt man. Der Familienvater bittet den Mann hinter ihm, doch bitte ein wenig Abstand zu halten.
Das Brutalste, was ich je erlebt habe
Sofort beleidigt ihn der Mann übel: „Halt die Fresse, du Arschloch“. Der Beleidigte, bis dahin ganz locker, wirkt auf einmal sehr angespannt. Später hat er mir erzählt, dass ihm in dem Moment die Nackenhaare hochstanden. Ich sage, dass hier nicht beleidigt werden darf, sonst muss ich die Polizei rufen. Der Familienvater verlässt den Laden, ich bin mit dem Mann alleine, er steht vor meiner Kasse und fängt an, mich ebenfalls zu beleidigen. „Du bist ja auch so ein Spast“, sagt er. Das impliziert für mich, dass die ganzen folgenden Taten einen Corona-Bezug hatten, denn es ging ja vorher um den Abstand. Und ich bin also auch so einer, der Abstand wichtig findet.
Ich greife zum Handy und wähle die 110, niemand ist mehr im Laden, nur noch ein Kollege von mir ist hinten im Lager und der Mann stellt seinen Wagen in die Tür. Als ich gerade die „Wählen-Taste“ drücken will, geht er direkt auf mich los. Direkt, ich kann nicht einmal etwas sagen. Er nimmt mein Handy, das ich in diesem Moment zum letzten Mal in der Hand halte. Greift in mein Gesicht, an meinen Hals und wirft mich auf die Palette, auf der Glasflaschen stehen. Ich bin ziemlich schlank. Ich schlage dort auf, liege da, der Mann tritt nicht nur auf mich ein, er stampft richtig auf mich ein. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Vielleicht kann sich das auch jemand vorstellen, aber für mich ist es das Brutalste, was ich je erlebt habe, so etwas kennt man nur aus Filmen. Ganz schlimm. Um mich herum liegen Glasscherben und ich in ihnen.
Dann packt er mich von hinten am Hals. Ich glaube, er nimmt mich mit dem Ellbogen in den Schwitzkasten und hält mir mit der anderen Hand Mund und Nase zu. Ob er mich ersticken will, weiß ich nicht. Es ist sehr brutal. Wie lange das alles dauert, weiß ich auch nicht, vielleicht zwei Minuten? Von hinten kommt mein Arbeitskollege angelaufen, kurz bevor mir mein Mund zugehalten wurde, hatte ich noch um Hilfe gerufen.
Mein Kollege kommt also und tritt den Angreifer weg. Ich laufe direkt los, aus dem Laden raus und rufe Passanten zu „Holen Sie die Polizei, holen Sie schnell die Polizei!“. Blut läuft an meinem Arm herunter, an ihm habe ich drei Schnittverletzungen. Bis die Polizei kommt, dauert es eine Zeit. Und in der Zwischenzeit geschehen Dinge, die ich nur am Rande mitbekomme. Dann sitze ich draußen auf einer Treppenstufe, der Angreifer will meinen Arbeitskollegen attackieren, der ist auch aus dem Laden raus, so schnell er kann. Der Mann hat inzwischen ein Messer in der Hand, da muss man ja wegrennen, da kann man nichts anderes tun.
„Die eigentliche Tat, also wie sie genau geschieht, sehe ich nicht. Aber dass da etwas ist. Und dann die Folgen.“
Dann lässt der Mann von dem Kollegen ab und attackiert einen unbeteiligten Jugendlichen, der gerade in den Laden rein will. Er sticht mit dem Messer auf ihn ein, trifft die Lunge und verletzt ihn lebensgefährlich. Der Junge telefoniert gerade, vielleicht denkt der Täter, er ruft die Polizei an und sticht deswegen zu, ich weiß es nicht. Die eigentliche Tat, also wie sie genau geschieht, sehe ich nicht. Aber dass da etwas ist. Und dann die Folgen.
Noch bevor die Polizei und der Rettungswagen eintreffen, geht der Täter zu seinem Auto. Auf dem Weg dorthin täuscht er noch ein, zwei Attacken auf Passanten an, greift sie aber nicht wirklich an. Als wäre nichts gewesen, stellt er dann seinen Getränkekasten in sein Auto und fährt davon. Dann kommen Polizei und die Rettungssanitäter, sie kommen zu mir, ich schicke sie zu dem Jungen mit der Stichverletzung. Der braucht mehr Hilfe. Er liegt da und blutet stark. Blut ist auch an der Wand. Geschrei auch dort, teilweise weinen die Menschen. Der Junge überlebt. Später wird der Täter festgenommen werden, sein Nummernschild ist ja bekannt. Was die Taten ausgelöst hat, weiß ich nicht, bis heute nicht. Er war ja nur aufgefordert worden, den Abstand zu wahren.
Eine Psychologin der Berufsgenossenschaft diagnostizierte bei mir später posttraumatischen Belastungsstress. Zwei Wochen nach der Tat arbeite ich wieder im Getränkemarkt. Bevor ich da jetzt mein Leben lang Angst habe, gehe ich wieder genau da hin und mache genau das weiter. Aber es ist anders. Das Vertrauen in die Menschen ist erst einmal weg. Erst da merke ich, wie viele Menschen eigentlich aggressiv sind. Wegen irgendetwas. Wenn der Kassenzettel nicht stimmt, das Getränk einen Cent teurer ist, viele werden da aus dem Nichts heraus extrem aggressiv. Am Anfang triggert mich das sehr, ich muss einen Stuhl zwischen mich und die Kunden stellen und mache, wenn es mir zu viel wird, schnell eine Pause oder bitte einen Kollegen, die Kasse zu übernehmen. Aber das gibt sich nach ungefähr zwei Wochen langsam, inzwischen ist es weg. Mir hat es sehr geholfen, genau da wieder hinzugehen und einfach weiterzumachen.
Vom Prozess erwarte ich nur, dass der Täter seine gerechte Strafe bekommt. Nur das.
Aufgezeichnet von Tobias Großekemper
Das sagt ein Jurist: Niko Brill vertritt als Rechtsanwalt den Studenten, der im Getränkemarkt attackiert wurde, vor Gericht und unterstützt ihn bei der Nebenklage. Der Prozess wird im August 2021 beginnen, es sind mehrere Verhandlungstage angesetzt. Brill ist seit 12 Jahren als Anwalt im Strafrecht aktiv, er sagt: „Dieser Fall ist nicht das Schlimmste, mit dem ich bisher zu tun hatte. Aber er befindet sich an der oberen Grenze und ist ein besonderer Fall.“ Hier sei es aus dem Nichts zu einer völligen Grenzüberschreitung gekommen. Gegen völlig Unbeteilgte und gegen einen Helfer in der Coronazeit. Der nichts anderes getan hat, als zu versuchen, Regeln für ein vernünftiges Zusammenleben durchzusetzen.“