Das Magazin „Stern Crime“, der Podcast „Mord auf Ex“ oder YouTuberin Kati Winter – sie alle berichten über echte Kriminalfälle, und das sehr erfolgreich. Die Redaktion des WEISSEN RINGS wollte von den Machern beliebter True-Crime-Formate wissen: Wie gehen sie eigentlich mit Opfern und Angehörigen um? Wann kontaktieren sie Betroffene, wann nicht? Wie sehr sind die Opfer in den Entstehungsprozess eingebunden? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat einigen der bekanntesten True-Crime-Formate Deutschlands einen entsprechenden Fragebogen zugeschickt.
Fünf von ihnen haben die Fragen beantwortet. Eine Auswahl ihrer Antworten lesen Sie hier:
„Die Quellen sind unterschiedlich. Nicht zuletzt: Urteile, Gutachten, Ermittlungsakten und in vielen Fällen auch Prozessbesuche. Zudem natürlich Gespräche mit Beteiligten wie Ermittler:innen, Anwält:innen, Zeug:innen und auch Angehörigen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)
„Hauptsächlich arbeiten wir mit Sekundärquellen, also wir recherchieren Zeitungsartikel, Podcasts, Interviews und Bücher und erstellen daraus ein Skript. Ist es ein Fall aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, arbeiten wir auch teilweise mit Familien zusammen.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)
„Für meine Recherchen nutze ich eine Kombination aus Zeitungsarchiven, Online-Artikeln, Fachbüchern/Magazinen und Dokumentationen, um das Zwei-Quellen-Prinzip gewährleisten zu können. Außerdem greife ich auf Urteile und in Einzelfällen auch auf Akten zu den Fällen zurück.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)
„Nein! Ich möchte die Privatsphäre der Opfer und deren Angehöriger wahren und ihnen durch meine Fragen keinen weiteren Schmerz zufügen. […] Ich bin mir der Macht meiner Reichweite sehr bewusst und lege Wert auf eine verantwortungs- und respektvolle Darstellung. […] Daher werden meine Kommentare streng moderiert, um Retraumatisierung, Beleidigungen der Opfer-Familien o. Ä. zu vermeiden, da ich mir bewusst bin, dass gerade bei deutschen Fällen Angehörige jederzeit meine Videos sehen könnten.“
Kati Winter (YouTube)
„Ich kontaktiere Angehörige nicht grundsätzlich, vor allem wenn sich aus der Berichterstattung ablesen lässt, dass sie von den Medien in Ruhe gelassen werden wollen. In einzelnen Fällen frage ich per E-Mail an, öfter kommen Angehörige aber auf mich zu, und bitten mich, über ‚ihren‘ Fall zu berichten.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)
„Insbesondere bei deutschen Fällen: meistens. Die Kontaktaufnahme erfolgt häufig über die Nebenklage-Anwälte. Bei älteren Fällen ist es oft schwieriger, weil Angehörige oft verstorben beziehungsweise nicht mehr aufzufinden sind. Bei Fällen, in denen unsere Autor:innen die Prozesse verfolgt haben, lassen wir zudem die Angehörigenperspektive aus Prozessauftritten einfließen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)
„Sehr wichtig. Wir möchten vor allem ihre Geschichten erzählen statt die der Täter. Deshalb arbeiten wir auch immer wieder in der Recherche eng mit Betroffenen oder Ermittler:innen zusammen. Von unseren Hörer:innen wissen wir, dass sie teilweise selbst traumatische Erlebnisse durchstehen mussten. Mit unseren Folgen wollen wir deshalb auch Hoffnung und Mut machen.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)
„Bei unserem Format steht die Perspektive der Opfer/Angehörigen an erster Stelle. Deswegen besteht unser Kanal auch fast nur aus ungelösten Fällen, bei denen es noch Hoffnung auf Gerechtigkeit gibt. Wir wollen die Menschen und Fälle nicht in Vergessenheit geraten lassen.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)
„Die Opfer-/Angehörigenperspektive ist uns wichtig. Das bedeutet in jedem Fall, dass wir bei der journalistischen, erzählerischen Aufbereitung der Fälle auch Opfer und Angehörige als potenzielle Leser berücksichtigen: Taten und das durch sie entstandene Leid dürfen nicht bagatellisiert werden, Täter nicht heroisiert oder romantisiert werden.“
Bernd Volland („Stern Crime“)
„Ich glaube, eine mögliche Retraumatisierung ist nicht zu umgehen, auch wenn wir versuchen, so sensibel wie möglich vorzugehen und mit Triggerwarnungen arbeiten. Ich glaube aber auch, dass Menschen, die ihre Liebsten suchen, so oder so tagtäglich daran erinnert werden. Ein Video, das wieder Aufmerksamkeit in der Bevölkerung erregt, könnte vielleicht sogar tröstend wirken. Das hoffe ich zumindest.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)
„Bereits bei der Anfrage von Interviewpersonen machen wir deutlich, dass – sollten die Angefragten sich nicht wohlfühlen, mit uns zu sprechen – wir das natürlich respektieren und sie nicht weiter kontaktieren. Bei einer Zusage senden wir unseren Interviewpartnern vorab unsere Fragen, so dass sie unerwünschte Fragen streichen und sich auf die weiteren Fragen vorbereiten können.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)
„In der Kontaktaufnahme: Da wir nicht tagesaktuell arbeiten, können wir einen zeitaufwändigeren, behutsameren Weg wählen. Wir sprechen in den meisten Fällen zuerst mit den Anwält:innen, die vorab meist gut einschätzen können, ob die Angehörigen beziehungsweise Opfer bereit sind und sich imstande fühlen, mit uns zu sprechen. […] Wenn die Betroffenen nicht persönlich sprechen wollen, lassen sie oft ihren Anwalt/ihre Anwältin die Geschichte aus ihrer Perspektive schildern. Es kommt auch vor, dass Angehörige/Opfer froh sind, ihre Seite der Geschichte erzählen zu können. Häufig schreiben wir auch Briefe, in denen wir darlegen, worum es uns geht, und die es den Betroffenen ermöglichen, ohne den Druck einer direkten Ansprache abzuwägen und eine Entscheidung zu fällen.
Im Gespräch: durch angemessene Sensibilität in der Gesprächsführung, Transparenz, was die Stoßrichtung der Recherche angeht, und die Akzeptanz der individuellen Grenzen der Opfer beziehungsweise Angehörigen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)
„Gerne geben wir Betroffenen die Möglichkeit, sollten sie mit uns während des Recherche-Prozesses in Kontakt gestanden haben, das Interview noch einmal zu hören und Unerwünschtes zu streichen.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)
„Allen Angehörigen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben wir vorher das Skript geschickt. Wobei das nicht ganz stimmt, im Fall Frauke Liebs war es nicht so. Das Video habe ich, kurz nachdem ich mit Insolito angefangen habe, veröffentlicht, da hatte ich noch keine Erfahrung. Frau Liebs hat das Video gesehen und mich kontaktiert, daraufhin haben wir miteinander kommuniziert, und ich habe Falschinformationen (die so auch in den Sekundärquellen standen) geändert und das Video neu hochgeladen und auf eben diese Falschinformationen hingewiesen, sie also auch kontextualisiert.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)
„Ja, ich habe schon häufiger nach Veröffentlichung des Podcasts Kontakt mit Angehörigen gehabt. Der Austausch war eigentlich immer positiv. […] Besonders langen Kontakt hatte ich mit der Familie einer ermordeten Frau aus Bremen. Nach vielen Telefongesprächen habe ich festgestellt, dass sie immer noch sehr unter der Tat leiden, und deshalb von mir aus angeboten, die dementsprechende Folge zu löschen. Das habe ich kurz danach auch getan.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)
„Bei uns haben sich nach unseren Folgen vermehrt Opfer/Angehörige gemeldet, die sich konkret wünschen, dass wir ihre Geschichten erzählen und aufarbeiten. Wir stehen mit ihnen in engem Kontakt.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)
„Ja. Ich wurde einmal von Angehörigen eines Opfers gebeten, ein schon älteres Video offline zu nehmen, da die Entlassung des Täters kurz bevorstand. […] Für mich war das kein Problem. Einige Male wurde ich von Angehörigen oder Bekannten der Opfer kontaktiert, oder sie haben unter meinen Videos kommentiert und sich für die respektvolle Aufarbeitung bedankt.“
Kati Winter (YouTube)
Umfrage: Christiane Fernbacher
Der #TrueCrimeReport: Alle Texte im Überblick
- Aus der Bahn geworfen: Die dunkle Seite des True-Crime-Booms
- Fakten: Die sieben wichtigsten Erkenntnisse unserer Recherche
- Exklusive Datenanalyse: Hauptsache tot
- Wie alles begann: Eine Mords-Geschichte
- Christian Schertz: „Opferrechte bleiben auf der Strecke“
- Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“
- Umfrage: Wie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?
- Christian Solmecke: Was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht
- Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“
- Johann Scheerer: „Befriedigung einer Schaulustigen-Mentalität“
- Zeit Verbrechen: „Scherben aufkehren, die andere zurücklassen“
- „Mordlust“: Warum sie die Perspektive gewechselt haben
- Erfahrungsbericht: Ist True Crime sinnvoll oder voyeuristisch?
- OMR: Marketing-Experte erklärt, warum Podcasts so beliebt sind
- Torsten Körner: „True Crime ist was für Feiglinge“
- Fall Högel: Die ungewöhnliche Anfrage eines Fernseh-Teams
- Presserat: Bisher nur eine Rüge für True-Crime-Format
- Hintergrund: Wie die Redaktion recherchiert hat
- Audiostory: Aus der Bahn geworfen
- Audiostory: Ingrid Liebs über ihre Erfahrungen mit True-Crime-Formaten
- Forum Opferhilfe: Das Magazin
- Deutsche Ausgabe (PDF-Format)
- Englische Ausgabe (PDF-Format)