„Sophie hat nichts falsch gemacht, gar nichts. Sie trifft keinerlei Schuld.“
Diese Feststellung der Journalistin Anouk Schollähn bohrt sich tief ins Gedächtnis. Auch lange nach Ende der vier Stunden, in denen sie und ihr Team die traurige Geschichte von Sophie erzählen – einer jungen Frau, die von ihrem Stalker ermordet wurde.
Die Erzählung, das ist „Just no! Der Podcast gegen Gewalt von NDR 2 und NDR Kultur“. Ein Podcast, der die Hörer und Hörerinnen in seinen Bann schlägt und doch ganz anders funktioniert als die vielen True-Crime-Formate, denen es vor allem um die Sensation geht. In diesem Podcast geht es um das Opfer. Und dieser Podcast stellt schon im Titel klar, dass Aufklärung und Prävention eine wichtige Rolle spielen werden.
Sophies Geschichte
Im Mittelpunkt der ersten Staffel steht dementsprechend kein Täter, sondern Sophie, das Opfer. Gleich in der ersten Minute erklärt Schollähn die Motivation, warum sie Sophies Geschichte erzählen musste: „Sie hatte das Gefühl, komplett machtlos und wehrlos zu sein, keine Hilfe zu bekommen, und das hat uns sehr beschäftigt.“ In acht Folgen schildert die Autorin das Schicksal der jungen Frau. Und noch viel mehr: Im Podcast spricht sie mit Juristen, Ermittlern, Opferhelferinnen, einem (Anti-)Stalking-Experten. Sie widmet sich den Fragen: Woran erkenne ich Stalking, wann geht das los, was kann ich tun, wo sind Anlaufstellen, wie bekomme ich Hilfe?
Diese Herangehensweise macht „Just no!“ zu einem Beispiel, wie True-Crime-Berichterstattung im besten Sinne aussehen kann.
Treffen in Hamburg
Hamburg-Harvestehude, Rothenbaumchaussee 132. Ein Pförtnerhaus, dahinter durchnummerierte Gebäude: Klinker, Keramik, Glasfronten. Über allem ragt der Turm mit den drei blauen Buchstaben „NDR“. Hier produziert der Norddeutsche Rundfunk sein Hörfunkprogramm, hier arbeitet Anouk Schollähn. Im Konferenzraum schenkt sie frischen Kaffee ein, an den Wänden hängen Goldene Schallplatten und Poster von Popstars hinter Glas: Tim Bendzko, Taylor Swift, Nickelback. NDR 2 heißt eben nicht nur Podcast, sondern auch Musik.
Anouk Schollähn, Radiomoderatorin, TV-Reporterin und Podcast-Macherin: „Wir haben 2015 den ersten True-Crime-Podcast gemacht“, sagt sie, „nach der Vorlage des US-Podcasts ‚Serial‘ von Sarah Koenig, die sich als Erste transparent bei der Arbeit hat zuschauen lassen. Man war bei ihren Recherchen mit dabei, sie hat die Leute mitgenommen, und man konnte im Podcast mithören: Wo scheitert sie? Wo stellt sie sich selbst Fragen?“
Nach dem amerikanischen Vorbild entstand beim NDR der erste „Täter unbekannt“-Podcast, damals mit dem Vermisstenfall Inka Köntges. „2018 haben wir dann einen zweiten Fall gemacht, den Fall Katrin Konert. Außerdem habe ich mir, mit einem Kollegen zusammen, die Görde-Morde nochmal angeschaut. Und irgendwie war klar, mein Weg geht in Richtung True Crime. Dann kam dieser Fall von Sophie – und da war es dann irgendwie anders.“
True Crime – aber nur mit Mehrwert
Es sei zwar schon immer so gewesen, dass sie nur Fälle mit Mehrwert umgesetzt habe, sagt Schollähn, „wo man vielleicht nochmal etwas über vermisste Personen herausfinden kann, wo man vielleicht die Möglichkeit generiert, nochmal Hinweise zu bekommen oder Handlungsempfehlungen zu geben, wie ‚Achtung, da kann es gefährlich werden‘ oder ‚darauf müsst ihr achten‘“. Doch während Schollähn die früheren Fälle nach diesen Kriterien ausgesucht hat, hat der Fall Sophie dann Schollähn ausgesucht.
„Durch die True-Crime-Formate hatte ich relativ gute Kontakte zu Polizisten, zu Ermittlern, zu Leuten, die mit solchen Dingen zu tun haben. Und aus diesen Reihen hat mich jemand kurz vor Prozessende im Fall Sophie angerufen und gesagt: ‚Hast du dich mit diesem Fall mal näher beschäftigt?‘“
Der Fall Sophie sorgte in Norddeutschland für großes Aufsehen. Die Medien berichteten erst über den Mord, danach über den Prozess. Schollähns Kontakt sagte weiter, sie müsse sich den Fall unbedingt ansehen, denn das Ausmaß an Stalking mache ihn fassungslos. „Und das habe ich dann auch gemacht. Ich habe erst mit der Polizei gesprochen, ob sie bereit wäre zu sprechen, und habe dann gesagt: ‚Vielen Dank, ich melde mich wieder.‘“ Denn bevor sie der Polizei zusagen würde, wollte sie Kontakt zur Mutter des Opfers aufnehmen.
Die goldene Regel
„Bei uns im Team gibt es eine goldene Regel: Wenn die Familie nicht möchte, dass wir die Geschichte erzählen, dann lassen wir sofort die Finger davon. Denn keiner aus dem Team hat erlebt, dass ein Angehöriger gewaltsam getötet wurde. Diese Situation kann niemand nachvollziehen, der das nicht selbst durchmachen musste“, sagt Anouk Schollähn. „Deswegen ist die Entscheidung der Familie – egal wie sie ausfällt – absolut zu respektieren und nicht verhandelbar.“ Familien müssten darüber aufgeklärt werden, dass möglicherweise ein großes Medien-Echo folgen wird, wenn sie bei einer True-Crime-Produktion mitmachen, „dass es ihnen immer und immer wieder begegnet, dass sie von Nachbarn angesprochen werden, dass sie davon in der Zeitung lesen, dass sie es im Radio hören“.
Im Fall von Sophie war dem Team von Anfang an klar, dass es nicht nur den Fall an sich erzählen möchte, sondern auch über Stalking aufklären. „Das habe ich auch Sophies Mutter erklärt. Wir haben mehrfach telefoniert und uns dann in Dessau getroffen. Da war der Prozess gerade vorbei.“ Vier Stunden dauerten die Aufnahmen. „Das war natürlich ein sehr, sehr intensives Gespräch. Wir haben auch nicht wirklich Pause gemacht, wir haben das durchgezogen. Am Ende haben alle geweint. Der Techniker hat geweint, ich habe geweint, die Mutter hat geweint.“
Tief eingegraben haben sich bei Anouk Schollähn die letzten Sätze von Sophies Mutter: „‚Ich habe kein Kind mehr, und ich habe jetzt keine Aufgabe mehr als Mama.‘ Was soll man da als Interviewende noch sagen? Man kann nichts Tröstendes sagen. Man ist total hilflos. Das ist das Schlimmste, das passieren kann.“
Die Rückfahrt von Dessau ist Schollähn noch sehr präsent. „Wir sind dann raus und ins Auto gestiegen, haben kein Wort gesprochen. Mein Kollege ist einfach losgefahren. Wir haben dann irgendwo ein Stück Wiese gefunden und da eine halbe Stunde angehalten.“
Spannung ohne Tätersuche
Für die Produktion spricht Schollähn nicht nur mit Sophies Mutter, sondern auch mit Sophies Freundinnen und Freunden. Das Bild einer jungen Frau entsteht: Anfang 20, lebensfroh, glücklich, die mit ihrer Zukunft noch so viel vorhatte. Eine Sprachnachricht, die das Team im Podcast verwendet, rundet dieses Bild ab. „Sophie ist nicht nur einfach ein Name oder irgendeine anonyme Figur. Das ist Sophie. Wir sind aber sehr sparsam damit umgegangen, denn das ist natürlich auch eine private Sprachnachricht, und man kann Sophie nicht mehr fragen, ob es okay ist, sie zu verwenden.“
Wenn es in einem Podcast nicht vorrangig um den Kriminalfall geht, sondern vor allem um Prävention, dann fällt die klassische True-Crime-Erzählweise weg: die Suche nach dem Mörder, die dunklen Geheimnisse der Betroffenen, die Faszination des Bösen. All das bietet „Just no!“ nicht. Im Gegenteil: Anouk Schollähn verrät schon in der ersten Folge, dass Sophie von Patrick getötet wird, einem ehemaligen Arbeitskollegen. Statt eine Tätersuche nachzuzeichnen, stellt „Just no!“ das Opfer würdevoll vor, nimmt dabei die Hinterbliebenen mit und leistet Aufklärungsarbeit.
Frage an Anouk Schollähn: Wie gelingt so etwas, ohne Spannung einzubüßen?
„Das war ein sehr großes Thema, vor allem in der Folge, in der der Stalking-Experte lange spricht“, antwortet die Journalistin im NDR-Besprechungsraum. „Ich hatte die Länge dieser Folge gesehen und sagte: ‚Das geht gar nicht. Das müssen wir auf jeden Fall kürzen, mindestens um die Hälfte.‘ Doch dann habe ich mir das stundenlang angehört und dachte immer wieder, ich finde nichts, das ich da jetzt rauswerfen kann.“ Die Journalistin bat zwei Kollegen, sich die Folge anzuhören. Sie kürzten gerade mal eine oder zwei Minuten. „Da haben wir gedacht, okay, wenn es so ist, dann ist es so.“ Der Experte erklärt in dieser Folge, wie es ist, wenn man selbst einen Stalking-Drang in sich verspürt, und wo man sich Hilfe suchen kann.
True Crime funktioniert auch ohne Sensationshascherei.
Gefahr Stalking
Seit 2019 steigt die Anzahl der Fälle von Nachstellung in Deutschland an. Stalking kann jeden treffen, überdurchschnittlich oft leiden Frauen darunter. Allein im Jahr 2023 wurden in Deutschland 23.156 Fälle von Stalking angezeigt. Beim WEISSEN RING zählt Stalking zu den drei häufigsten Deliktformen, die Betroffene auf der Suche nach Hilfe angeben – nach Körperverletzung/häuslicher Gewalt und Sexualstraftaten.
Dass Stalking wie in Sophies Fall mit einem Mord endet, ist allerdings die Ausnahme. Im Podcast wird die Tat sehr detailliert beschrieben. Eine Schauspielerin liest Passagen des Urteils vor. Diese Minuten erinnern innerhalb der vier Podcast-Stunden am stärksten an „klassisches“ True Crime.
Noch eine Frage an Anouk Schollähn: War die Schilderung dieser Brutalität in dieser Härte unbedingt notwendig?
Schollähn antwortet, ihr Team habe diese Frage sehr kontrovers diskutiert. „Wir sind uns bis heute nicht einig, aber wir haben die Entscheidung als Team getroffen. Denn wenn man sagen würde, Patrick hat Sophie im Badezimmer getötet, dann ist das etwas anderes als das, was da wirklich passiert ist. Die Passagen im Urteil sind hart und brutal, aber genauso war auch dieser Fall. Auch der Umfang des Stalkings war unglaublich. Diese Vorbereitung, die dieser Täter getroffen hat, ist unfassbar. Um die gesamte Komplexität und Brutalität dieses Falls zu verstehen, haben wir uns dazu entschieden, eins zu eins aus dem Urteil zu zitieren, was da vorgefallen ist.“
Reaktionen auf den Podcast
Der Podcast zeigt, dass True Crime auch unaufgeregt funktionieren kann: mit Empathie, solider Recherche und hilfreichen Tipps. Und das Beste: „Just no!“ hat auch beim Publikum Erfolg. Menschen bedankten sich beim NDR, dafür dass der Sender das Thema aufgegriffen hat. Andere erzählten ihre eigene Stalking-Geschichte. „Das war ein sehr, sehr positives Feedback“, sagt Anouk Schollähn.
Letzte Frage: Wie hat Sophies Mutter auf den Podcast reagiert?
„Ich hatte der Mutter den Link geschickt“, sagt Schollähn, „und dann habe ich zwei sehr unruhige Nächte gehabt, weil sie sich nicht gemeldet hat. Ich dachte: ‚Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Man kann den Podcast dann auch nicht mehr zurückholen.“ Und dann hat sie mir irgendwann ein Foto geschickt, eine Naturaufnahme, und sagte: ‚Hier in dieser Umgebung habe ich mir jetzt diesen Podcast angehört, habe viel geweint und finde es gut. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es so umgesetzt haben.‘ Das war für mich das wichtigste Feedback.“
Christiane Fernbacher und Karsten Krogmann