Angehörige der NSU-Opfer

Trauer und Enttäuschung sind geblieben

Stuttgart – Zehn Jahre nach dem Auffliegen der rechtsextremen NSU-Terrorzelle bleibt bei vielen Angehörigen Enttäuschung über ungeklärte Fragen rund um die Mordserie. Eine Erinnerung an die Toten und ihre Familien:

9. September 2000, Nürnberg: Die Mordserie beginnt. Der türkische Blumenhändler Enver Simsek (38) wird beim Arbeiten erschossen. Elf Jahre später wird klar, dass der NSU hinter der Tat steckt: Simseks Foto tauchte in einem Bekennervideo auf. Seine Tochter Semiya Simsek (35) sagt heute: „Ich als Tochter möchte wissen, warum ausgerechnet mein Vater? Nach welchen Kriterien wurde er denn ausgesucht? War das nur Zufall? Für mich gibt es keinen Schlussstrich. Wir dürfen das nicht vergessen.“

13. Juni 2001, Nürnberg: Die Terrorristen erschießen den Türken Abdurrahim Özüdogru (49) in seiner Änderungsschneiderei. Seit diesem Sommer weist eine Gedenktafel am Tatort auf das Verbrechen hin. Die Familie will sich laut ihrem Anwalt Mehmet Daimagüler aktuell nicht äußern.

27. Juni 2001, Hamburg: Der türkische Händler Süleyman Tasköprü (31) stirbt durch mehrere Kopfschüsse in seinem Lebensmittelladen. Die Polizei vermutete damals Verwicklungen in den Drogenhandel, verdächtigte Familienmitglieder. Die Anwältin der Familie, Gül Pinar, sagte der dpa, die Familie sei nach wie vor unzufrieden mit dem Urteil und habe nicht abgeschlossen.

29. August 2001, München: Der türkische Gemüsehändler Habil Kilic (38) wird in seinem Geschäft erschossen. Die Ermittler vermuteten dieses Mal einen Zusammenhang zur kurdischen Arbeiterpartei PKK oder zur organisierten Kriminalität. Anwältin Barbara Kaniuka sagte auf Anfrage: „Der Tochter von Herrn Kilic, die ich im NSU-Prozess als Hinterbliebene vertreten habe, war und ist es ein großes Anliegen, sich strikt im Hintergrund zu halten und auf Medienkontakte zu verzichten. Das ändert aber nichts daran, dass ich alle Bemühungen begrüße, die dazu beitragen, dass die Taten des NSU und ihre Opfer nicht in Vergessenheit geraten und die ,Aufarbeitung‘ des gesamten Komplexes nicht einfach abgehakt wird.“

25. Februar 2004, Rostock: Die Rechtsterroristen töten den türkischen Imbissverkäufer Mehmet Turgut (25). Turgut hat am Tattag spontan als Aushilfe in dem Imbiss seines Freunds gearbeitet. Laut dem Anwalt eines Sohnes von Mehmet Turgut, Bernd Max Behnke, ist die Familie stabil. „Die halten zusammen. Die Trauer bleibt aber ewiglich.“

9. Juni 2004: Eine Nagelbombe explodiert in der Kölner Keupstraße. Mehr als 20 Menschen werden verletzt, einige lebensgefährlich.

9. Juni 2005, Nürnberg: Ismail Yasar (50) wird in seinem Döner-Imbiss getötet. Die Familie will sich laut ihrem Anwalt Mehmet Daimagüler aktuell nicht mehr äußern.

15. Juni 2005, München: Der Grieche Theodoros Boulgarides (41) stirbt durch drei Kopfschüsse in seinem Schlüsseldienst-Laden. Die Polizei ermittelte unter anderem in Richtung Drogendealer, Mafia und Prostitution. Witwe Yvonne Boulgarides und andere Angehörige erhoben vor dem Urteil gegen Zschäpe noch einmal massive Vorwürfe gegen die Behörden: fehlende Aussagegenehmigungen für Geheimdienstler, Gedächtnisverlust auch bei Behörden-Zeugen, Akten geschreddert, kein einziger Verantwortlicher zur Verantwortung gezogen – das sei „komplettes Organversagen“. Der Anwalt der Familie war für eine aktuelle Stellungnahme nicht erreichbar.

4. April 2006, Dortmund: Die Rechtsterrorristen töten den türkischstämmigen Kioskbetreiber Mehmet Kubasik (39). Seine Tochter Gamze Kubasik sagte auf dpa-Anfrage: „Für mich ist die Aufklärung nicht zu Ende. Auch das Urteil des Oberlandesgerichts München hat meine Fragen nicht beantwortet. Ich möchte immer noch wissen, wer für den Mord an meinem Vater verantwortlich ist. Es geht nicht nur darum, wer selbst geschossen hat, sondern auch darum, wer Unterstützer, Helfer oder weiterer Mörder war. Ich will wissen, welche Helfer der NSU in Dortmund und anderswo hatte. Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Solange eine hundertprozentige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“

6. April 2006, Kassel: Halit Yozgat (21) stirbt durch Schüsse in seinem Internet-Café, in dem sich in großer zeitlicher Nähe zur Tat ein ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz aufhielt. Weil ihm keine Beteiligung an der Tat nachgewiesen werden konnte, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Ein Anwalt der Familie Yozgat, Thomas Bliwier, vermisst weitergehende Aufklärung. Die Familie wolle sich aktuell nicht äußern.

25. April 2007, Heilbronn: Die Polizistin Michèle Kiesewetter (22) ist das letzte bislang bekannte Opfer des NSU. Sie wuchs in Thüringen auf und arbeitete später in Heilbronn als Polizistin. Dort wurde sie während eines Einsatzes auf einem Festplatz getötet, ihr Kollege wurde mit einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt, überlebte aber. Was am Tatort passierte, ist bis heute ungeklärt. Die Dienstwaffen beider Polizisten wurden später bei den Terrorristen Mundlos und Böhnhardt in Eisenach gefunden. Beide konnten nach dem Mord in Heilbronn mit Beate Zschäpe noch viereinhalb Jahre unerkannt im Untergrund leben. Aktuell wollten sich weder die Familie noch die Anwältin äußern.

4. November 2011: Sparkassen-Überfall in Eisenach (Thüringen). Die Terrorristen Böhnhardt und Mundlos verstecken sich in einem Wohnmobil. Den Ermittlern zufolge erschießen sie sich, als die Polizei sie entdeckt. Beate Zschäpe zündet die gemeinsame Wohnung in Zwickau (Sachsen) an. Kurz darauf stellt sie sich in Jena, der NSU wird enttarnt.

Quellen:
Text: dpa
Foto: Arne Dedert/dpa