Der Anschlag von Ratingen

Ein Routineeinsatz, der mit einer Katastrophe endet

Sie wollten helfen und wurden Ziel eines Mordanschlags: In Ratingen sind im Mai bei einem Angriff mehrere Rettungskräfte zum Teil lebensgefährlich verletzt worden. Was steckt hinter der Tat?

Foto: David Young/dpa

Die Katastrophe beginnt mit einem Routineeinsatz. Es ist der 11. Mai 2023, 9 Uhr 49. Polizei und Feuerwehr werden im nordrhein-westfälischen Ratingen zu einem Hochhaus gerufen. Nachbarn sorgen sich um eine betagte Mieterin, deren Briefkasten überquillt, weil er offenkundig nicht mehr geleert wird. Die Einsatzkräfte brechen die Tür auf, um ein Menschenleben zu retten. Die Befürchtung: eine mutmaßlich hilflose Person ­hinter verschlossener Tür, wie es offiziell heißt. Was dann passierte, hat der an jenem Tag zuständige ­Einsatzleiter der Polizei Düsseldorf, Dietmar Henning, geschildert. Demnach hat beim Öffnen der Wohnungstür im zehnten Obergeschoss mutmaßlich ein 57-Jähriger eine Explosion ausgelöst und brennende Flüssigkeit auf die Helfer geschleudert. Diese hätten sich nach der ­Attacke brennend und „schwerst verletzt“ aus dem Haus retten können.

Die vorläufige Bilanz des heimtückischen Angriffs: Neun schwer bis lebensbedrohlich Verletzte von Polizei und Feuerwehr, von denen einige im künstlichen Koma ­versorgt werden mussten. Zudem zahlreiche leicht ­verletzte Einsatzkräfte. Etliche Personen mussten mit Rettungshubschraubern in Kliniken in der Umgebung gebracht werden. Eine Polizeisprecherin erklärte, umfassende Hilfsangebote für betroffene Kolleginnen und Kollegen bereitzustellen: „Sie können sicher sein, dass wir diese Menschen damit nicht allein lassen.“ Die Solidarität ist groß: Bis Ende August werden laut ­Deutscher Presseagentur (dpa) 700.000 Euro für die neun Schwerverletzten gespendet.

Mithilfe von Spezialkräften gelang es der Polizei, den Tatverdächtigen, der zuvor offenbar die Wohnung ­vollständig in Brand gesetzt und sich selbst mit einer Flüssigkeit übergossen hatte, trotz heftiger Gegenwehr zu überwältigen. Die Polizei fand in dem Hochhaus zwei Leichen, darunter auch die Mutter des mutmaßlichen Attentäters in der Tatwohnung. Gegen den Mann wurde ein Haftbefehl wegen versuchten Mordes in neun Fällen erlassen.

Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) zeigte sich nach dem Anschlag auf diejenigen, die gekommen waren, um Leben zu retten, ebenso erschüttert wie Bundes­innenministerin Nancy Faeser (SPD). Nach Angaben von Heike Schultz, Kriminaldirektorin der Düsseldorfer Polizei, wurden bei der Durchsuchung des Kellers in dem Ratinger Hochhaus eine Schreckschusswaffe sowie mehrere Messer und Dolche gefunden. Die Ermittler gehen aufgrund des Ablaufs davon aus, dass die Tat geplant war. Heimtücke meint das bewusste ­Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit von Opfern, im Strafrecht ist sie eines jener schwerwiegenden Merkmale, die Ermittlungen wegen versuchten Mordes begründen.

„Zeit Online“ hat berichtet, dass der Verdächtige auf Facebook aktiv war. Dort soll er Verschwörungs­erzählungen veröffentlicht und sich gegen das Impfen sowie gegen Klimaaktivisten geäußert haben. In einem Video sei davon die Rede, dass „alle Regierungen“ unmoralisch seien „und kriminelle Institutionen“. Auf Anfrage bestätigte Laura Neumann von der zuständigen Staatsanwaltschaft Düsseldorf Hinweise, wonach „der Beschuldigte möglicherweise Verschwörungstheorien zugeneigt sein könnte“. Dies legt ebenfalls ein  vertraulicher Bericht der Landesregierung für den Innen­ausschuss des Landtags nahe, von dem die dpa Ende August berichtete. Ob dies jedoch für die Tat relevant ist, wird weiter ermittelt.

Medienberichten zufolge könnte der mutmaßliche Attentäter als sogenannter Prepper Vorräte für einen erwarteten Krisenfall angelegt haben. Staatsanwältin Neumann bestätigt, dass „eine große Menge an Lebensmitteln, Kerzen und Hygieneartikeln“ gefunden wurde. Die Ermittler gehen nun der Frage nach, wofür die ­Vorräte angelegt wurden.

Gegen den Beschuldigten lag zuvor ein Vollstreckungshaftbefehl vor, so Neumann. Nach einer Verurteilung wegen Körperverletzung habe der Mann die verhängte Geldstrafe nicht gezahlt. Daher sei eine Ersatzfreiheitsstrafe erlassen worden. Ein Bezirksbeamter habe einige Tage vor der Attacke versucht, den Haftbefehl zu ­vollstrecken. Nach bisherigen Erkenntnissen der Ermittler wussten die Polizeibeamten vor dem Angriff im Hochhaus von dieser Vorgeschichte.

Ob und wie die Tat geplant war, muss noch geklärt ­werden. Bei Redaktionsschluss schwieg der Verdächtige weiterhin, ein psychiatrisches Gutachten stand laut dpa noch aus. Über das Motiv ist bislang nichts bekannt.

Michael Kraske