Digitale Gewalt

Pornografisches im Posteingang

Studierende erleben an deutschen Hochschulen digitale Gewalt – per E-Mail, in sozialen Netzwerken und auf Lernplattformen im Internet. Drei junge Frauen wollen das ändern.

Foto: Julia Zipfel

Mitten in der Vorlesung erscheint eine Nachricht auf dem Display ihres Handys. Sie ist von ihrem Dozenten. Inhalt: ein Penis-Foto, ein sogenanntes Dick-Pic. Sie erstarrt, darf sich aber vor ihren Kommilitonen nichts anmerken lassen. Ekel steigt in ihr auf.

Das ist der Bericht einer Studentin, die digitale Gewalt erlebt hat. Sie hat um Anonymität gebeten. Denn wie so viele Gewaltopfer empfindet sie große Scham. Trotzdem möchte sie erzählen, damit Verantwortliche an Hochschulen erfahren, was digitale Gewalt für die Betroffenen bedeuten kann.

Herausforderungen für „Digital Natives“

Das Handy immer griffbereit, per Smartwatch erreichbar und in den sozialen Medien gut vernetzt – für die 18- bis 30-Jährigen von heute ist das selbstverständlich. Mühelos jonglieren sie mit privaten Messengern, privaten und universitären E-Mail-Accounts und Lernplattformen wie Moodle oder Blackboard. Was dieser Generation mehr zu schaffen macht, ist der Missbrauch, der über diese Plattformen möglich ist. Übergriffige Nachrichten, ungewollte Nacktbilder. Videoaufnahmen, die auf Partys oder während Vorlesungen stattfinden und dann ohne das Wissen, geschweige denn das Einverständnis der abgebildeten Person geteilt werden. Kontaktaufnahme über die Handynummer, weil diese für alle sichtbar in einer Uni-WhatsApp-Gruppe abgelegt ist.

Jegliche beleidigende, diskriminierende oder sexuelle Grenzüberschreitung gilt als digitale Gewalt. Aber ist das den sogenannten Digital Natives bewusst, denjenigen, die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind? Der WEISSE RING hat über die sozialen Medien eine Umfrage unter Studierenden durchgeführt. Von 140 Studenten gaben 55 an, diesen Begriff noch nie gehört zu haben. 72 Prozent der Studierenden, die angaben, bereits digitale Gewalt erfahren zu haben, hatten keine Unterstützung gesucht.

Paula Paschke, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Religionspädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt, hat dieses Phänomen sowohl als Studentin als auch als Lehrende beobachtet und ist besorgt über das Ausmaß und die Intensität der digitalen Grenzüberschreitungen. Sie sagt: Die Betroffenen stehen den Angriffen im Netz oft sehr hilflos gegenüber. „Ich bin Mitte 20 und als Teenager mit Medien aufgewachsen. Ältere Generationen gehen einfach davon aus, dass junge Heranwachsende gut damit umgehen können. Und das ist sicher auch der Fall, dass wir uns schnell zurechtfinden. Aber wie sieht es mit den Sicherheitsaspekten aus?“ Seit fast drei Jahren setzt sich Paula Paschke deshalb dafür ein, dass bundesweit Hochschulen diskriminierende und Gewalt ermöglichende Strukturen in ihren digitalen Räumen ernst nehmen.

Besorgt über das Ausmaß digitaler Gewalt: Paula Paschke. Foto: Julia Zipfel

Universitäten galten lange Zeit als eine Art Elfenbeinturm, in dem man sich mit Forschung und Entwicklung beschäftigt und von den Problemen der restlichen Welt ein wenig abgekoppelt ist. Im Jahr 2019 stürzte dieser Elfenbeinturm im Zuge der Me-too-Bewegung krachend ein. Hierarchische Beziehungen, in denen Betroffene kaum Möglichkeiten haben, sich gegen Vorgesetzte zu wehren, ohne Job und Karriere zu gefährden, gelangten an die Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, Doktorandinnen und Professorinnen sprachen öffentlich über Machtmissbrauch, Mobbing und sexuelle Übergriffe durch Vorgesetzte und Kollegen. Als Konsequenz überarbeiteten Verantwortliche die Richtlinien und setzten Ergänzungen der Hochschulgesetze durch. Auf vielen Hochschulwebseiten wurden neue Maßnahmen im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes veröffentlicht, um Schutz vor Diskriminierung jeglicher Art zu bieten. Für Paula Paschke aber blieben zwei große Probleme ungelöst: „In der Diskussion wird kaum berücksichtigt, welche Rolle die digitale Komponente spielt. Auch die Hochschulen sind stark von der Digitalisierung betroffen. Und damit nimmt auch die Gewalt neue Formen an.“

Am meisten betroffen, am wenigsten geschützt

Ein Semester zuvor. Aus heiterem Himmel schreibt der Studentin ein Dozent abseits der Uni-Kommunikationswege. Eine kurze Anfrage zu einem Thema, an dem sie gerade arbeitet. Das ist ihr unangenehm, aber nach einigem Zögern antwortet sie. Er schreibt zurück. Sie antwortet wieder. Will nicht unhöflich sein. Ein Gespräch entwickelt sich, er fragt nach ihren beruflichen Plänen, ihrem Beziehungsstatus. Dann will er ihre Telefonnummer.

Mittlerweile lässt sich digitale Gewalt an Hochschulen in Zahlen darstellen. Laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften aus dem Jahr 2022 hat fast ein Drittel der Studierenden und Beschäftigten sexuelle Belästigung im Studium oder am Arbeitsplatz erlebt – auch online. Im gleichen Jahr führt das Projekt UniSAFE europaweit Umfragen an 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch, um Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu entwickeln. In den Ergebnissen tauchen vermehrt digitale Komponenten der Belästigung an Hochschulen auf, darunter Cybermobbing und die Verbreitung pornografischer Bilder oder Texte ohne Einverständnis des Empfängers. In der Umfrage des WEISSEN RINGS unter Studierenden gaben elf der 140 Befragten an, digitale Gewalt erlebt zu haben, 28 Befragte hatten Vorfälle von digitaler Gewalt beobachtet. Bei sieben Betroffenen ging die digitale Gewalt von Dozierenden aus. Vier Studierende gaben an, digitale Gewalt von Mitarbeitern der Universitäten erfahren zu haben. 31 Studierende waren durch Kommilitonen digital angegriffen worden.

Wem das zu abstrakt ist, der braucht nur einen Blick in die Presse zu werfen, um anschauliche Beispiele zu finden. Im April 2024 berichten Medien von einem Professor der Fachhochschule Gelsenkirchen, der nach Aussagen männlicher Studierender diese sexuell belästigt und bedroht sowie intensiv über WhatsApp kontaktiert und unter Druck gesetzt haben soll. Im Juni 2024 wird ein 22-jähriger Informatikstudent der RWTH Aachen exmatrikuliert, weil er in digitalen Hochschulgruppen frauenfeindliche Nachrichten gepostet, Studentinnen und Dozentinnen aufgelauert und sie mit Drohbotschaften und Bildern belästigt hat.

Nach Meinung von Paula Paschke vernachlässigen die Hochschulen beim Kampf gegen digitale Gewalt eine weitere Komponente: den Schutz der Studierenden. Laut einer aktuellen Studie der gemeinnützigen Organisation HateAid ist die Altersgruppe der 18- bis 27-Jährigen am stärksten von digitaler Gewalt betroffen. Fast ein Drittel der befragten Betroffenen gab an, schon einmal Opfer von digitaler Gewalt geworden zu sein. Ein Rückzug aus der digitalen Welt ist aber keine Option. Vorlesungs- und Seminarmaterial wird heute vermehrt online zur Verfügung gestellt, Referatsgruppen koordinieren sich über WhatsApp, die Vernetzung über soziale Netzwerke wie Instagram, Snapchat oder TikTok gehört zum studentischen Leben einfach dazu. Digitale Gewalt damit leider auch.

Regeln für digitale Räume

Der Dozent tritt immer fordernder auf. Die Studentin traut sich nicht, Nein zu sagen. „Er war eine Autoritätsperson, bei der ich noch mehrere Prüfungen ablegen musste. Und durch diese Nähe und unsere unterschiedlichen Positionen hatte ich gar nicht die Möglichkeit, so zu reagieren wie zum Beispiel in der Freizeit. Wenn mich da jemand anspricht und ich will das nicht, dann sage ich: ‚Lass mich in Ruhe.‘“

Paula Paschke ist noch Studentin, als sie von der Initiative Digital Change Maker erfährt. Das Programm bietet Studierenden aus ganz Deutschland die Möglichkeit, die digitale Transformation an Hochschulen aktiv mitzugestalten. 2021 wird Paschke Teil der bundesweiten studentischen Denkfabrik. Sie lernt die Philosophiestudentin Lea Bachus aus Berlin kennen. Gemeinsam beschließen sie, Verantwortliche für das Thema zu sensibilisieren und für ein sicheres digitales Hochschulumfeld zu kämpfen. Frei von Hassrede, Diskriminierung und sexuellen Übergriffen.

Im Oktober 2022 berichten Paschke und Bachus auf dem „Let’s Talk:Campus“-Festival über den Status quo von Studierenden und digitaler Gewalt. Die anschließende Fragerunde dauert länger als geplant. „Viele Lehrende waren sehr überrascht und haben uns gesagt, dass sie das Thema gar nicht auf dem Schirm hatten. Sie waren dankbar, dass wir sie darauf aufmerksam gemacht haben“, berichtet Paula Paschke. „In weiteren Gesprächen kam immer wieder die Frage auf, ob man präventiv etwas in die Lehre einbauen könnte. Das hat uns motiviert, eine Netiquette zu verfassen und zur Verfügung zu stellen.“

Eine Netiquette legt die Regeln im Netz fest, an die sich alle Beteiligten halten müssen. In der Vorlage für die pädagogische Praxis haben Paschke und Bachus Eckpunkte festgehalten, die aus ihrer Sicht für ein gewaltfreies Miteinander wesentlich sind:

• Digitale Räume sollen Safe Spaces sein, verletzendes Verhalten wie Hate Speech oder Beleidigungen werden nicht akzeptiert.

• Die Kommunikation im Rahmen der Lehrveranstaltung hat über die digitalen Kanäle der Hochschule zu erfolgen. Ausnahme: In privaten Messenger-Diensten wie WhatsApp werden private Kontaktdaten sensibel behandelt und wird niemand ohne Zustimmung der Gruppe hinzugefügt.

• Audio- und Bildschirmaufnahmen von Personen sind verboten.

Die Netiquette verweist bei Verstößen gegen diese Regeln an die universitäre Anlaufstelle gegen Diskriminierung oder für Gleichstellung. Bei Zuwiderhandlung drohen Sanktionen seitens der Hochschule.

Nehmen die Studierenden diese Regeln wahr und vor allem ernst? Paula Paschke sagt: Es funktioniert. „Ich habe zum Beispiel mitbekommen, dass Studierende meiner Veranstaltung eine WhatsApp-Gruppe gegründet haben. Ich habe noch einmal auf die Netiquette hingewiesen und deutlich gemacht, dass das freiwillig ist und wir für die Veranstaltung eine andere Form der Kommunikation haben. Tatsächlich wurde viel expliziter gefragt, ob die Studierenden in diese Gruppe aufgenommen werden wollen, anstatt sie einfach hinzuzufügen, wie es sonst üblich ist.“

Allerdings ist die Netiquette nur ein kleiner Baustein im großen Ganzen dessen, was eine Hochschule zum Schutz vor digitaler Gewalt tun sollte. Aufklärung und Beratung für Studierende haben bislang kaum einen Stellenwert, wie eine Analyse der Redaktion zeigt. Dafür wurden die Webseiten der 100 größten Hochschulen in Deutschland dahingehend durchsucht, welche Beratungsstellen explizit Hilfsangebote zu digitaler Gewalt machen oder zumindest Informationen wie Veranstaltungen oder Broschüren dazu anbieten. Das Ergebnis: An lediglich 15 Universitäten ist dies der Fall. Paschke und Bachus sehen das größte Problem in der rechtlichen Stellung der Studierenden.

Rechtsschutz nur für Angestellte

Die Studentin ist überfordert damit, dem Mann einerseits als Dozenten und Vorgesetzten zu begegnen, andererseits als Verführer, der sich als potenzieller Partner sieht. „Vielleicht redet man sich selbst auch ein: Ich kann das irgendwie noch handhaben, ich kann damit umgehen. Und trotzdem quält einen die Frage: Ist das noch okay? Ab wann meldet man das? Und wem?“ Schließlich ist es heutzutage normal, ständig Nachrichten zu bekommen. Und blockieren? „Das wäre ja unhöflich, schließlich kommuniziert man mit einem Lehrenden einer Universität.“

Für Beschäftigte an Hochschulen gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Sie haben das Recht, sich bei sexueller Belästigung beim Arbeitgeber zu beschweren und, wenn keine geeigneten Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen werden, „ihre Tätigkeit ohne Benachteiligung zu beenden“. Studierende sind in solchen Fällen auf sich allein gestellt, erklärt Lea Bachus 2022 im Rahmen eines Talks: „Wären Studierende an der Hochschule angestellt, hätten sie andere Möglichkeiten. Für sie gilt das AGG nicht.“ Erlebt beispielsweise eine Studentin Belästigung, Diskriminierung oder digitale Gewalt durch den Dozenten und bleibt deshalb der Veranstaltung fern, wird diese nicht für das Studium anerkannt. Da ist es besser, sich mit dem Dozenten gut zu stellen, einen unpassenden Kommentar zu überhören oder zu überlesen, als die Zulassung zur Abschlussprüfung zu riskieren.

Es verändert sich etwas

Die Situation überschattet alles. „Der Sicherheitsraum, der die Universität eigentlich auch sein sollte, ist nicht mehr da. Und das erschwert natürlich das Ziel, irgendwie sein Studium zu beenden.“ Das liegt auch an ihren Selbstvorwürfen. „Wenn man Opfer einer Gewalttat wird, stellt man auch ganz viel die eigenen Fähigkeiten infrage.“ Dem Täter die Schuld für ihre Situation zu geben, kommt ihr lange gar nicht in den Sinn. Denn „sexuelle Gewalt geht mit Erniedrigung einher, und die besteht lange weiter“.

Paschke und Bachus veröffentlichen einen Forderungskatalog. Darin führen sie unabhängige Anlaufstellen für Betroffene auf, kostenlose Rechtsberatung für betroffene Studierende, leicht zugängliche Informationsmöglichkeiten und eine Verantwortung von Lehrenden und Hochschulleitungen für digitale Gewalt im Hochschulkontext.

Will Studierende aufklären und sensibilisieren: Laura Mößle. Foto: Julia Zipfel

Große Forderungen, die viel Umstrukturierung erfordern. Allerdings scheint man sie zu hören, wie ein Blick in die Landesgesetze annehmen lässt: In neun Bundesländern wurde das AGG inzwischen auf Studierende ausgeweitet. Damit gelten für sie an den Hochschulen dieser Länder die gleichen rechtlichen Möglichkeiten wie für Beschäftigte. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz oder die Hochschule Merseburg haben eigene Antidiskriminierungsrichtlinien verabschiedet, die ausdrücklich auch für Studierende gelten, und zwar sowohl im analogen als auch im digitalen Raum. Ob weitere Hochschulen nachziehen werden, bleibt abzuwarten. Allerdings: 77 Prozent der Studierenden gaben bei der Stichprobenumfrage des WEISSEN RINGS an, dass ihnen keine einschlägigen Maßnahmen an ihrer Universität bekannt seien.

Der WEISSE RING hakte mit einer weiteren Befragung bei den Pressestellen der 100 größten Hochschulen Deutschlands nach. Lediglich 17 Universitäten nahmen an der Umfrage teil. An acht Hochschulen waren Fälle digitaler Gewalt den Verantwortlichen bekannt. Allerdings fielen die Fallzahlen niedrig aus: An vier Universitäten waren insgesamt neun Dozierende betroffen.

Zwei Hochschulen meldeten zwei und sieben Studierende als Betroffene. Dazu schrieb ein Pressesprecher bei der Befragung: „Wir vermuten eine sehr hohe Dunkelziffer, da sich nur in seltenen Fällen Personen an uns wenden.“ Und die Universität Mannheim schreibt auf ihrer Website „Informationen und Hilfe bei Gewalt“: „Viele Betroffene nutzen die Möglichkeit zur Hilfe bei Anlaufstellen oder Beratung an der Universität Mannheim (noch) nicht.“

Es bleibt also viel zu tun. Obwohl Paula Paschke als Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr beschäftigt ist, will sie das Projekt gemeinsam mit Lea Bachus weiter vorantreiben. So viel Zeit fürs Ehrenamt muss sein, denn: Studierende müssen darüber aufgeklärt werden, was sie im digitalen Raum erwarten können, und lernen, wie sie sich schützen können. „Ich weiß nicht, wie viele Studierende sich darüber Gedanken machen, was mit ihren Kontaktdaten passiert, was mit eventuellen Fotos passiert und wie sie im digitalen Hochschulraum auftreten. Das erfordert Medienkompetenz oder Mediensozialisation. Und die ist in der Schulbildung nicht vorgesehen.“

Und wenn es gar nicht so weit käme?

Über diesen Bildungsweg denkt Laura Mößle nach, als sie eine Lehrveranstaltung für das Sommersemester 2024 plant. Mößle, Anfang 30, hat in Religionspädagogik promoviert und beendet gerade einen zweijährigen Aufenthalt als Research Fellow am Safeguarding Institut an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, als sie einen Lehrauftrag aus Frankfurt am Main erhält. Sie soll am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität ein Seminar zu digitalen Grenzverletzungen für Lehramtsstudierende halten. Dabei fallen ihr die immer häufigeren Berichte aus Schulen ein, in denen pornografisches Material unter Jugendlichen kursiert. Auch wenn die angehenden Lehrerinnen und Lehrer das vielleicht nicht wahrhaben wollen, ist es Laura Mößle wichtig, „ihnen die Angst vor dem ganzen Themenbereich Missbrauch zu nehmen und sie stattdessen in ihrer Kompetenz zu stärken. Das Ziel ist es, dass die Studierenden sagen: ‚Jetzt kann ich mit den Kindern und Jugendlichen darüber sprechen, wie sie ihre Grenzen setzen können, wie sie diese auch einhalten können.‘ Viele Lehrerinnen und Lehrer gehen der Thematik lieber aus dem Weg.“ Ein besonderer Schwerpunkt der Religionspädagogik in Frankfurt liegt auf dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht – für eine praktische Medienkompetenz. „Es braucht aber auch eine reflexive Medienkompetenz, damit unsere angehenden LehrerInnen wissen, wie gute Verhaltensformen im Netz aussehen.“

Was für die heutigen Studierenden noch ungewöhnliche Erfahrungen sein mögen, findet laut Laura Mößle bei den Jüngsten bereits statt. Einige ihrer Studierenden arbeiten nebenbei in Kindertagesstätten oder Horten und berichten in der Uni von ihren Erfahrungen dort.

„Eine Studentin hat heute erzählt, dass sich ihr eines der Kinder, die sie nachmittags betreut, anvertraut hat. Das Mädchen erklärte, dass ihr jemand komische Nachrichten auf Snapchat schreibe. Das Mädchen wollte die Nachrichten erst gar nicht zeigen. Die Studentin blieb jedoch am Ball und fragte immer wieder nach. Schließlich durfte sie den Chat sehen. Die Nachrichten waren sexualisiert und grenzüberschreitend. Mit Hilfe der Studentin gelang es dem Mädchen, den Kontakt abzubrechen.“

Mößle sagt, dass Kinder und Jugendliche oft das Bedürfnis haben, mit jemandem über ihre digitalen Erfahrungen zu sprechen, aber nicht wissen, wem sie sich anvertrauen können. „Da braucht es ein Gesprächsangebot von Pädagoginnen und Pädagogen und Lehrkräften, die das im Blick haben.“ Der Druck, den die Jugendlichen durch die sozialen Medien verspüren, ist enorm. Was früher als Mutprobe auf dem Schulhof ausgetragen wurde, findet heute als sogenannte Challenge im digitalen Raum statt. Wie zuletzt bei der „Hot Chip Challenge“, bei der man vor laufender Kamera extrem scharfe Chips essen musste. In Bayern kamen eine 13- und eine 14-Jährige nach dem Verzehr mit Magenkrämpfen und Atemnot ins Krankenhaus. Die Challenge ging weiter. Dann starb in den USA ein 14-Jähriger, woraufhin der Hersteller die Chips vom Markt nahm.

Auch Mobbing erreicht neue Dimensionen. Mitschüler werden nach dem Sport in der Umkleidekabine in peinlichen Situationen fotografiert und dann mit den Fotos erpresst. Sie brauchen jemanden, der den Ernst der Lage versteht. Eine Vertrauensperson, die weiß, welche Katastrophe ein peinliches Bild für einen Jugendlichen im Internet sein kann. Und die den Tätern auch deutlich macht, ab wann sie sich strafbar machen und welche Folgen das unbedachte Posten für alle haben kann.

Medienkompetenz als Prävention

Ein Nebeneffekt der Präventionsarbeit ist die Sensibilisierung der Studierenden. Vielleicht erkennt der eine oder andere Teilnehmer nach dem Seminar von Mößle, dass das komische Gefühl, dass er nach einer digitalen Begegnung hatte, gerechtfertigt war. Denn die Befragung des WEISSEN RINGS unter den Studierenden hat gezeigt: Viele sind zwar dem gesamten Onlineerlebnis ständig ausgesetzt, können aber mit dem Begriff „Digitale Gewalt“ nichts anfangen. Für die Kinder wird im Unterricht ein Grundgedanke gelegt, der ihnen noch im Erwachsenenalter helfen kann. „Es kann sein, dass man die ganze Kindheit und Jugend nicht von digitaler Gewalt betroffen ist. Dann merkt man irgendwann als Erwachsener: Man ist in eine komische Situation geraten, in der man sich nicht wohlfühlt“, sagt Laura Mößle. „Und dann gibt es andere, die auch dieses Wissen haben und einem sagen: Das ist Erpressung oder Grenzüberschreitung, was diese Person mit dir macht.“

Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer können mit diesem Wissen Kindern die nötigen Kompetenzen vermitteln, um im Netz sicher zu sein und sich im Notfall selbstbewusst abzugrenzen oder Hilfe zu suchen. Vielleicht wächst so eine Generation heran, die digitale Gewalt im Keim erstickt. Die sich traut, sich auch an Universitäten ganz selbstverständlich gegen solche Übergriffe zu wehren, und damit eine neue Normalität schafft: die eines sicheren digitalen Raumes, in dem klare Regeln für alle Studierenden, Forschenden und Lehrenden gelten.

Digitale Gewalt wirkt genauso nach wie analoge. Die Situation der anonymen Studentin hat sich aufgelöst, sie hat keinen Kontakt und keine Berührungspunkte mehr mit dem Dozenten. Das Geschehene verfolgt sie aber noch. „Man hat schon so eine Art Verfolgungswahn, vielleicht auch, weil man keine Kontrolle darüber hat, welche Verbreitung dieser Kommunikation vielleicht stattgefunden hat. Und welche Folgen das für mein weiteres Leben haben könnte.“ Denn vielleicht existieren die digitalen Grenzverletzungen, die sie erlebt hat, auf irgendeinem Server oder Handy noch weiter.

Julia Zipfel und Marius Meyer