Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten zu unterstützen, zum Beispiel durch Kostenübernahme für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen. „Es gibt ein gutes Gesetz, das Opfern Hilfe verspricht – aber die versprochene Hilfe kommt bei den Betroffenen nicht an“, sagt Prof. Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS. „Die Bürokratie hat versagt: Sie lässt Menschen hilflos zurück, die unverschuldet in Not geraten sind. Der WEISSE RING wird nicht nachlassen, für die Rechte dieser Opfer zu kämpfen!“
Ausgangspunkt für die Erkenntnisse über die unzureichende Unterstützung von Gewaltopfern ist eine umfassende Recherche der Redaktion des WEISSEN RINGS. Die Ergebnisse inklusive sämtlicher Daten aus den 16 Bundesländern sowie die Forsa-Umfrage und weiterführendes Material finden sich frei zugänglich unter: www.forum-opferhilfe.de/oeg.
Die Ergebnisse unserer Recherche im Überblick
1. Kaum jemand kennt das Gesetz.
Weniger als ein Viertel der Menschen in Deutschland hat schon einmal vom Opferentschädigungsgesetz (OEG) gehört. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des WEISSEN RINGS im Frühjahr 2022. Sogar bei denjenigen, die angaben, selbst Opfer einer Gewalttat geworden oder Angehöriger von Betroffenen zu sein, ist das Gesetz demnach größtenteils unbekannt.
2. Nur wenige Opfer stellen einen OEG-Antrag.
Wem Informationen zu seinem Recht auf Entschädigung fehlen, der kann auch keine Leistungen beim Staat einfordern. Stellt man die Anzahl der Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst, der Zahl der gestellten Anträge gegenüber, dann entsprechen die Anträge nur zehn Prozent der erfassten Gewalttaten.
3. Der Staat lehnt die meisten Anträgen ab.
Von den wenigen Anträgen, die überhaupt gestellt werden, wird der größte Teil negativ entschieden: Zwischen 2018 und 2020 haben die Behörden bundesweit insgesamt jedes Jahr mehr als 40 Prozent der Anträge abgelehnt. Im selben Zeitraum wurden nur rund 28 Prozent anerkannt.
4. Die Erfolgsaussichten hängen vom Bundesland ab, das über den Antrag entscheidet.
Die Zahlen zu den Entscheidungen über OEG-Anträge in den einzelnen Bundesländern klaffen mitunter weit auseinander. Gute Chancen auf eine Anerkennung gibt es statistisch gesehen zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern, die schlechtesten dagegen in Bremen.
5. Die OEG-Verfahren sind eine Belastung für die Opfer.
Haben Betroffene einen Antrag nach dem OEG gestellt, finden sie sich häufig in zermürbenden Verfahren wieder. Einerseits dauert es oft lange, bis dringend notwendige finanzielle Entschädigungen bewilligt werden. Andererseits nimmt der Staat die Antragstellenden in die Verantwortung, die Tat zu beweisen, etwa durch die Teilnahme an Befragungen durch Behörden oder Gutachterinnen. Viele Opfer berichten, dass das für sie wirtschaftlich wie psychisch nur schwer zu ertragen ist.
6. Der Verwaltungsakt nimmt kaum Rücksicht auf traumatisierte Menschen.
Die Kommunikation von Behörden nehmen Betroffene häufig als unsensibel wahr. In vielen Bundesländern gibt es keine Standards für Mitarbeiterschulungen zum Umgang mit teils traumatisierten Opfern.
7. Die Datenlage ist zu lückenhaft, um Verbesserungen zu erarbeiten.
Obwohl das Opferentschädigungsgesetz bereits 1976 verabschiedet wurde, gibt es bis heute keine validen Erkenntnisse rund um das Thema. Beispielsweise erheben die Bundesländer unterschiedliche statistische Daten. Zudem fehlen wissenschaftliche Untersuchungen dazu, wie die Verfahren ablaufen und wie lange sie im Durchschnitt dauern. Insbesondere aber gibt es keine aussagekräftigen Befragungen von Betroffenen.
Nina Lenhardt