Wenn zwei Menschen lange und eng miteinander arbeiten, genügt manchmal ein kurzer Blick. Heinz Habermann und Gudrun Midding engagieren sich ehrenamtlich für den WEISSEN RING und betreuen Kriminalitätsopfer im Main-Kinzig-Kreis. Ende März sitzen sie in einem Raum des Trauerzentrums in Hanau; das Fenster zum sonnigen Garten ist weit geöffnet. Habermann, 69 Jahre alt, blaues Hemd und graue Haare, hat vor sich auf dem Tisch einige Mappen mit Informationen ausgebreitet. Als die Frage aufkommt, welche Art von Fällen sie bisher betreut haben, schaut er kurz zu Midding herüber. Die 58-Jährige sitzt ihm schräg gegenüber und wird daraufhin gleich eine Geschichte erzählen, die eigentlich Thema für einen Horror-Thriller wäre. Doch genau dieser Horror für die Opfer bedeutet mitunter für diese beiden die harte Realität.
„Wir haben Opferfälle vom Handtaschendiebstahl bis zu Sexual- und Tötungsdelikten“, sagt Habermann. Beim Namen Hanau fällt den meisten direkt der rechtsextreme Terror im Februar 2020 ein. Habermann und Midding haben auch die Opfer dieses Tages und deren Angehörige betreut. Aber beide bekommen hautnah mit, dass Mord und Totschlag auch fernab der breiten öffentlichen Wahrnehmung geschehen. Die Opfer werden oft dermaßen aus der Bahn geworfen, dass die Arbeit der Ehrenamtler schon in den kleinsten Details eine große Unterstützung sein kann – und sei es ein Glas Wasser.
Mordanschlag nur knapp überlebt
Midding erzählt nun den Fall einer Spanierin, deren Partner in Drogengeschäfte verwickelt war. Dafür musste er mit dem Leben bezahlen – und streng genommen gilt das auch für sie, obwohl sie überlebte. Die Frau wusste nichts von den „Geschäften“ ihres Partners. Das Paar wurde von sieben Tätern, Mitgliedern eines Drogenclans, im eigenen Haus überfallen und über mehrere Stunden dort festgehalten. Der Lebensgefährte wurde ermordet, die Frau konnte gerade noch entkommen, bevor das gemeinsame Haus in Flammen aufging. „Sie hatte nichts mehr – nur noch das, was sie am Leib trug“, erzählt Gudrun Midding.
Die Frau überlebte also knapp einen Mordanschlag, sah ihren Lebensgefährten sterben und stand vollkommen mittellos da. Der Schock in so einer Situation ist nur schwer zu ermessen – doch noch gravierender war die Einsamkeit des Opfers nach dem Schock. „Da war es wichtig, dass einfach jemand da ist“, so Midding. „Ich habe sie zum Prozess begleitet und den ganzen Tag im Gericht gesessen. Sonst wäre sie auf sich allein gestellt gewesen.“ Es sei auf Kleinigkeiten angekommen: mal ein Glas Wasser reichen oder ein Taschentuch, mal dem Richter signalisieren, dass das Opfer eine Pause benötige. Kleine Hilfen mit großer Wirkung.
Über mehrere Jahre begleitete Midding die Frau, die auch um finanzielle Hilfen kämpfte. Die Opferentschädigung wurde ihr jedoch vorenthalten, da das Versorgungsamt anzweifelte, dass sie vom Doppelleben ihres Partners nichts gewusst habe. „Die Frau war komplett verzweifelt. Da ist man kurz davor, aus eigener Tasche zu helfen“, so Midding. Diese Gefahr besteht häufig: dass das Engagement der Ehrenamtler in ihren privaten Bereich hineinreicht. Midding sagt deshalb: „Da muss man schon einen Cut machen.“
Über Ehrenamtsbörse zum WEISSEN RING
Neben dem harten Fall der Spanierin hat Midding auch mit Opfern von sexuellem Missbrauch zu tun – auch bei Übergriffen innerhalb einer Familie und bei kleinen Kindern. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen teilen sich die Schwerpunkte auf. Insgesamt sieben Ehrenamtler helfen den Opfern im Main-Kinzig-Kreis, vor Corona trafen sie sich alle vier Wochen. Nun sprechen sie sich telefonisch ab oder begegnen sich in zur Verfügung gestellten Räumen wie hier im Hanauer Trauerzentrum. Betroffene können sich über das Opfer-Telefon melden oder übers Internet Kontakt aufnehmen.
Gudrun Midding wurde im Jahr 2010 durch eine Ehrenamtsbörse auf den WEISSEN RING aufmerksam. Zuvor hatte sie mit ihrem Mann eine Firma für Abfallentsorgung geleitet. Zunächst hospitierte sie, seither ist sie als feste Mitarbeiterin dabei. In einem Grundseminar zur Begleitung und in Aufbauseminaren zu Psychologie, Strafrecht, Prävention oder Mobbing hat sie sich seither fortgebildet. Das ist ein enormer Aufwand für ein Ehrenamt und brachte den einen oder anderen Bekannten natürlich zu der Frage: Warum tust du dir das alles an? Midding sagt: „Die Opfer haben keine Lobby, sie brauchen Hilfe.“ Viele Betroffene hätten einen Tunnelblick entwickelt; da helfe es ungemein, neue Perspektiven aufzuzeigen.
Genau darum ging es auch Heinz Habermann. Er sagt: „Die Polizei schaut meistens auf den Täter, die Opfer werden alleingelassen.“ Damit spricht er aus Erfahrung: 32 Jahre lang arbeitete er als Kriminalbeamter, zehn Jahre als hauptamtlicher Bürgermeister. Seit 2014 befindet er sich im Ruhestand. Langeweile kommt bei ihm aber nicht auf, Habermann besitzt von jeher eine soziale Ader. So engagiert er sich auch im Vorstand einer regionalen Wohnungsbaugenossenschaft; durch diese Funktion konnte er bereits mehreren Opfern zu einer dringend benötigten Wohnung verhelfen. Darüber hinaus ist er noch als ehrenamtlicher Ortsgerichtsschöffe in seiner Heimatgemeinde tätig.
Schon während seiner Zeit als Polizist kümmerte er sich um Jugendliche und Menschen mit Migrationshintergrund. Nach seinem Ausscheiden wies ihn ein ehemaliger Kollege darauf hin, dass es Vakanzen beim WEISSEN RING gebe. Seither betreut Habermann auch Fälle, die ihn später nicht loslassen – so wie bei einem weiblichen Opfer, dem in den Kopf geschossen wurde. Glücklicherweise nutzte der Täter eine umgebaute Schreckschusswaffe, anderenfalls hätte das Opfer den Angriff sicherlich nicht überlebt. Manchmal kommt die „déformation professionelle“ als Polizist noch durch: Zwar ermittelt Habermann natürlich nicht mehr selbst, aber er hat ein besonderes Augenmerk darauf, wie die Polizei vorgeht.
Durch Berufe viel über Umgang mit Opfern gelernt
Eine seiner Betreuungen erstreckte sich über zweieinhalb Jahre. Das Opfer war offenbar psychisch erkrankt und rief ihn ständig an. „Ich konnte auch nicht ,nein’ sagen, aber in diesem Fall bin ich an meine Grenzen gestoßen.“ Generell haben die Ehrenamtler vom WEISSEN RING auch eine „Lotsenfunktion“, so Habermann. Sie können in solchen Fällen Kontakte herstellen zu anderen Anlaufstellen, zu juristischer Beratung oder therapeutischer Hilfe. Nicht jeder und jede im Ehrenamt hat schließlich ein Jura- oder Medizin-Studium abgeschlossen, doch das Leben und ihre Arbeit waren für die meisten von ihnen „Universität“ genug. So würden Habermann und Midding sich zwar wünschen, dass noch mehr Personen beim WEISSEN RING helfen, schränken aber auch ein, dass das Engagement eine gewisse Lebenserfahrung voraussetze.
Beide haben durch ihre vorherigen Berufe bei der Polizei und in der Firmenleitung viel für den Umgang mit Opfern gelernt: Sie zeichnet ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft, Menschenkenntnis und Empathie aus. Das ist nicht unwichtig, wenn sie abwägen müssen, welche Reaktionen und Hilfen individuell zu ihrem jeweiligen Gegenüber passen. Dazu gehört auch, die Opfer darauf vorzubereiten, welche emotionalen Auswirkungen ein Gerichtsprozess haben kann. Manche Opfer unterschätzen oder überschätzen sich auf dem Weg, der vor ihnen liegt. Habermann und Midding können hier durch ihre Erfahrung helfen, doch ebenso wichtig: Sie agieren vor allem uneigennützig und unprätentiös. Auch bei den Geschichten, die sie erzählen, drängen sie sich nicht in den Vordergrund.
Nach der schrecklichen Tat in Hanau sofort zur Stelle
Diese Qualitäten und ihre Erfahrung waren besonders im vergangenen Jahr gefordert – nach dem rechtsextremen Terror in Hanau, bei dem ein Attentäter neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordete, danach seine Mutter und sich selbst erschoss. Von der schrecklichen Tat erfuhren Habermann und Midding am gleichen Abend durch die Medien. Die Bundesgeschäftsstelle in Mainz und das Landesbüro Hessen informierten sie über dieses sogenannte Großschadensereignis, nur wenige Tage nach der Tat saß Habermann bei Angehörigen daheim. Der WEISSE RING half neben der Sofortunterstützung beim Umzug von Angehörigen, die weiterhin in der Nähe des Tätervaters lebten, und bei Erholungsmaßnahmen. Selbst „mittelbar Geschädigten“ wie einem Mann, der auf der Flucht seinen Laptop fallen ließ, griff die Organisation unter die Arme. Die Tatortreinigung in einem Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz in Höhe von 6.000 Euro übernahm die Opferhilfe ebenso. Insgesamt zahlte der Verein finanzielle Hilfen in Höhe von über 63.000 Euro.
Dennoch konnten nicht alle Wünsche der Opfer erfüllt werden, wenn beispielsweise ein traditionelles Beerdigungsessen für mehrere hundert Personen geplant wurde. In solchen Fällen müssen die Mitarbeiter die Verhältnismäßigkeit prüfen. „Bei den 1.000 Euro Soforthilfe ging es erst einmal darum, die größte Not zu lindern. Der WEISSE RING und auch die Stadt Hanau waren insgesamt sehr großzügig“, sagt Habermann. Trotz der Pandemiemaßnahmen besteht auch weiterhin Kontakt zu den Opfern und Angehörigen, obwohl diese sich auch in einer eigenen Initiative zusammengeschlossen haben und die Stadt Hanau einen speziellen Opferbeauftragten eingesetzt hat.
Dem WEISSEN RING war es wichtig, sofort und schnell da zu sein – auch über die Soforthilfe hinaus. So bieten Hilfen bei Erholungsurlauben nicht nur bei den Angehörigen von Hanau eine wichtige Möglichkeit, zumindest zeitweise Abstand zu gewinnen. Und: Die Arbeit der Ehrenamtler geht auch dann weiter, wenn die Opfer nicht mehr im öffentlichen Fokus stehen und sich dann alleingelassen fühlen.
Die Betreuung von Kriminalitätsopfern kann viele Jahre der Hilfe beanspruchen. Dafür setzen sich Habermann und Midding in ihrer Freizeit ein und haben auf diese Art etliche Opfer aus dem dunklen Tal gelotst. Midding sagt über ihr Engagement: „Man merkt in unserer Arbeit relativ schnell, dass man wirklich etwas bewirken kann.“ Und Habermann nickt wissend.
Ron Ulrich