Berichterstattung über Opfer

Journalismus ohne Anstand?

Wer Opfer einer Straftat wird, muss befürchten, obendrein in seiner Würde verletzt zu werden – durch Social-Media-Gaffer oder skrupellose Reporter. Das dürfen wir nicht zulassen, meint Tanjev Schultz.

Foto: JS Mainz

Das Geiseldrama von Gladbeck, der Amoklauf in Winnenden, der Germanwings-Absturz in den Alpen: In solchen Situationen rastet ein Teil der Medienbranche aus, verliert jede Hemmung und jeden Anstand und beliefert das Publikum mit blutigen Sensationen und süffigen Spekulationen.

So widerlich es ist, es zahlt sich offenbar aus – und geschieht deshalb immer wieder. Auch in diesem Jahr gab es mehrere Fälle, in denen die Reporter keine Rettungsgasse für Moral und Anstand bildeten, sondern unverdrossen gafften und publizierten, was und wen sie vor ihre Kameras und Mikrofone bekamen. So in Solingen im September: Eine Mutter soll fünf ihrer Kinder getötet haben, ein sechstes Kind überlebte. Bei RTL und BILD wurde großflächig berichtet und aus dem Chatverlauf des elfjährigen Jungen zitiert, der mit dem Leben davongekommen war. Die Quelle für den Chat: ein Freund, zwölf Jahre alt. Abgebildet und interviewt ohne jeden Schutz.

Redaktionen heizen den Voyeurismus an

Wie verroht oder zynisch können Redaktionen sein? Eigentlich sollten sie sich der Verwahrlosung der Kommunikation auf den unsozialen Social- Media-Plattformen entgegenstellen, stattdessen heizen sie den Voyeurismus an. Betroffenen kann man nur raten, sich dagegen zu wehren – notfalls mit einer Klage.

Nicht immer ist das Presserecht auf Seiten der Opfer. In einem Rechtsstaat, der auch die Pressefreiheit besonders schützt, gibt es manchmal schwierige juristische Abwägungen. Umso wichtiger wird die Medienethik. Sie kann unter Umständen auch das kritisieren oder moralisch verdammen, was rechtlich noch zulässig ist. Es gibt Dinge, die tut man nicht.

Dass die Mutter des Jungen, der in Solingen als Quelle diente, beim Gespräch dabei gewesen sein soll und nicht intervenierte, kann eine Redaktion nicht wirklich entlasten. Erstens geht es auch um die Würde des anderen Jungen. Zweitens gibt es Situationen, in denen man Menschen vor sich selbst oder ihren Eltern schützen muss. Daran erinnert der Pressekodex in seiner Richtlinie 4.2: Bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen
sei „besondere Zurückhaltung“ geboten. Dies betreffe vor allem Menschen, „die sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen oder körperlichen Kräfte befinden oder einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind, aber auch Kinder und Jugendliche“.

Der Pressekodex ist ein Regelwerk des Deutschen Presserats, dem die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger sowie die Berufsgewerkschaften von Journalistinnen und Journalisten angehören. Das Gremium dient der freiwilligen Selbstkontrolle. Der Pressekodex ist kein Gesetz. Die Urteile des Presserats sind keine Gerichtsentscheidungen.


„Wie verroht oder zynisch können Redaktionen sein?!“

Tanjev Schultz

Schmerzhafte Sanktionen stehen nicht zu Gebote, der Presserat kann lediglich eine öffentliche „Rüge“ aussprechen. Oft wird er deshalb als „zahnloser Tiger“ bezeichnet. Doch so sinnlos und wirkungslos, wie er auf den ersten Blick aussieht, ist er nun auch nicht. Immerhin hält er den Diskurs über ethisch richtiges Handeln im Journalismus wach und lebendig. Er konfrontiert Redaktionen mit ernsten Fragen und hilft den Medien und ihren Kritikern, sich auf vergleichsweise konkrete Normen zu beziehen.

Sind Persönlichkeitsrechte berührt, können sich im Presserecht nur die unmittelbar Betroffenen wehren. Beim Presserat darf sich dagegen jeder und jede beschweren, die in einem Medienbericht einen Verstoß gegen den Kodex erkennt.

Grausame Reporter-Routine

Allerdings ist der Presserat nur für Zeitungen und Zeitschriften und deren Online-Angebote zuständig, nicht für den Rundfunk. Wer sich im konkreten Fall über RTL beschweren wollte, musste das bei der zuständigen Landesmedienanstalt tun. Im Falle der öffentlich-rechtlichen Programme gibt es weitere Gremien und Beschwerdewege. Alles gar nicht so einfach. Sinnvoll könnte es daher sein, eine übergreifende Beschwerdestelle einzurichten, die zumindest das Vorsortieren und Weiterleiten übernimmt und Menschen auch berät, wenn sie Anstoß an medialen Darstellungen nehmen.

Die Grundsätze des Pressekodex setzen einen Rahmen, der eine gewisse Orientierung geben kann. Manches ist gar nicht so vage und allgemein, wie man dem Pressekodex nachsagt. Seine Richtlinie 8.3 lautet: Kinder und Jugendliche dürfen in Berichten über Straftaten und Unglücksfälle in der Regel nicht identifizierbar sein. Und in Ziffer 11 heißt es (zugegeben etwas allgemeiner): „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.“

Im Fall von Solingen hat die Bild-Zeitung auf den öffentlichen Protest reagiert und eine Entscheidung des Presserats nicht abgewartet. Der Bericht mit dem Chat wurde zurückgezogen. Mathias Döpfner, Chef des Springer-Verlags, der die Bild-Zeitung herausgibt, sagte: „Wir haben Fehler gemacht.“ Intern hätten sie „viel und sehr kritisch über diesen Vorgang diskutiert“. Döpfner fügte hinzu: „Wir wollen und müssen es in Zukunft besser machen.“

Die Erfahrung lehrt, dass es auch in Zukunft viele fragwürdige und regelrecht abscheuliche Berichte geben wird – gerade über Kriminalfälle, bei denen journalistische Sensibilität besonders gefragt wäre. In ihrer Sensationsgier haben einige Redaktionen grausame Routine.

Bild-Zeitung fällt negativ auf

Die Bild-Zeitung ist nicht das einzige Medium, das negativ auffällt, das Ausmaß ihrer Verstöße ist aber bemerkenswert. So hat der Presserat allein im September unter anderem diese drei Rügen gegen die BILD und ihren Online-Auftritt ausgesprochen:

Im BILD-Bericht „Mein Papa hat mir gesagt, dass er ein Vergewaltiger ist“ habe die Redaktion das Foto eines Vergewaltigungsopfers kurz nach seinem Auffinden durch die Polizei veröffentlicht – unverpixelt. Ein schwerer Verstoß gegen den Opferschutz.

Im Artikel „Junge Mutter in Leipzig getötet“ zeigte die BILD-Zeitung das Foto eines Mordopfers. Die Redaktion hatte es offenbar ohne Einwilligung von Angehörigen von der Facebook-Seite der Getöteten entnommen. Auch dies ein Verstoß gegen den Opferschutz.

Der BILD-Bericht „Kinder-Psychologin und Ehemann von Sohn erschossen“ zeigte ein getötetes Ehepaar und den ebenfalls getöteten Sohn. Dieser wurde als Täter bezeichnet – schon bald stellte sich jedoch heraus, dass der Sohn nicht der Täter war. Der Presserat rügte diese Vorverurteilung sowie die identifizierbare Abbildung der Familie.

Der Presserat ist mit seinen Rügen zwar nicht völlig wirkungslos, aber er allein wird Redaktionen, die den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie gehorchen, nicht zur Räson bringen. Auch das Presserecht wird nicht ausreichen. Es braucht ein Publikum, das sich eine solche Berichterstattung nicht mehr gefallen lässt.

Tanjev Schultz ist Professor am Journalistischen Seminar der Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor war er Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Für seine Berichterstattung über den NSU-Terror erhielt Schultz den Nannen-Preis.