True Crime

„Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen“

Der ungelöste Mord an ihrer Tochter Frauke beschäftigt Ingrid Liebs seit dem Jahr 2006. All die Jahre über war sie in verschiedenen Medien und True-Crime-Formaten präsent, vertraute fremden Menschen immer wieder ihre Geschichte an und betrieb eine eigene Internetseite zu dem Fall, „ihrem“ Fall. Sie war überzeugt: „Ich brauche die Öffentlichkeit.“ Das hat sich geändert. Hier erzählt die 72-Jährige, warum sie sich heute völlig zurückgezogen hat.

Foto: Christian Ahlers

„Letztes Jahr im Herbst, am 4. Oktober 2023, habe ich die Webseite für Hinweise zum Mord offline genommen. Es war genau der Tag, an dem Frauke im Jahr 2006 gefunden worden war. Das heißt, es war eine Art Jahrestag. Den Schritt hatte ich entsprechend groß in der regionalen Presse angekündigt und bin gefragt worden, ob ich mir das gut überlegt hätte, weil ich dann ja keine Hinweise mehr bekommen würde. Daraufhin habe ich noch ein Interview gegeben, in dem ich erklärt habe, dass sich jetzt nur noch Betreffende, die etwas wissen, oder derjenige, der es getan hat, melden können, so dass dann Polizei und Staatsanwaltschaft reagieren müssen. Ich hatte das Gefühl, alles getan zu haben, was ich tun kann, und dass meine Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Nach der Abschaltung habe ich gemerkt, dass es mir sehr guttut, Abstand zu gewinnen. Ich habe Luft holen und mich wieder ein bisschen sortieren können.

Ich hatte tatsächlich sehr lange überlegt, bevor ich mich zurückgezogen habe. Die Öffentlichkeit, das hat was mit mir gemacht, habe ich gemerkt. Es sind zum Teil furchtbar abgedrehte Leute, die sich melden. Eine Frau schickte mir bestimmt 80 Nachrichten über die Webseite und behauptete, sie wäre dabei gewesen, als Frauke getötet wurde, und schilderte schreckliche Details. Aber im Laufe der Zeit merkte ich, dass diese Frau sich das nur ausgedacht hatte und die Schilderung nicht mit nachweisbaren Fakten übereinstimmte. Da sie keine E-Mail angab, unter der ich sie kontaktieren konnte, war ein Stopp erst mit der Abschaltung der Webseite gegeben. So etwas geht an die Substanz. Aber das betrifft auch gut gemeinte Hinweise. Zum Beispiel kam, kurz bevor ich die Webseite abgeschaltet habe, ein Video von einem sogenannten Lost Place rein, einem verlassenen Haus, wo in einem Zimmer Folterinstrumente aufgebaut waren. Es schien zunächst, als könnte der Standort des Hauses zum Fall passen, deshalb habe ich mir das Video genauer angesehen. Also – das war ziemlich grauslich. An so was kaue ich dann ein paar Tage.

Was die Polizei mit dem Video gemacht hat, weiß ich nicht. Dort ist Fraukes Fall im Herbst vergangenen Jahres in die Cold-Case-Abteilung gewechselt, wo Tötungsdelikte landen, die ja nicht verjähren, wenn sie nach längerer Zeit nicht gelöst wurden. Das finde ich in Ordnung, der aktuelle Leiter der Abteilung gilt als kompetent, verlässlich und menschlich in Ordnung. Und vom Staatsanwalt habe ich zwischenzeitlich ein Schreiben erhalten, dass weiterhin Hinweise entgegengenommen werden.

„Es tut mir gut, dass ich den ganzen Mist nicht mehr lese“, sagt Ingrid Liebs. Foto: Christian Ahlers

Auch wenn ich mich zurückgezogen habe – im Internet wird weiterhin diskutiert. Für manche Leute scheint es ein Hobby zu sein, in Foren über True-Crime-Fälle zu spekulieren oder sich etwas dazu auszudenken. Ich gehe zwar immer noch davon aus, dass es Mitwisser des Mordes gibt, die sich auch in solchen Foren bewegen. Aber ich selbst gehe da nicht rein, es steht so viel erfundener Unsinn darin, dass mich das nur aufregt, deshalb sind Foren für mich tabu. Es gibt ja Leute, die sich daran erfreuen, wenn sie andere beunruhigen. Es tut mir gut, dass ich den ganzen Mist nicht mehr lese. Wenn etwas Wichtiges oder Auffälliges geschrieben wird, kommt das immer noch bei mir an, weil es Menschen gibt, die mich darauf aufmerksam machen. Das ist dann in Ordnung für mich.

Ich habe zwar aufgehört, aktiv zu suchen. Aber das heißt nicht, dass ich überhaupt nichts mehr mit Frauke zu tun habe. Ich bin offensichtlich an vielen Stellen bekannt wie ein bunter Hund und bekomme immer noch mal direkt Informationen von Fremden. Etliche haben herausgefunden, dass ich hier in Minden-Lübbecke die Außenstelle des WEISSEN RINGS leite, und daher erreichen mich auch über mein Vereins-Engagement Hinweise. Gelegentlich eine Mail oder einen Anruf zu bekommen, das ist für mich auch in Ordnung. Wenn ich allerdings merke, dass jemand Unsinn redet, breche ich das Gespräch sofort ab und sage ganz deutlich, dass mit ausgedachten Behauptungen und Vermutungen niemandem geholfen ist und man Betroffene damit nicht behelligen sollte. So eine Reaktion hätte ich mir früher nicht zugetraut, das musste ich im Laufe der Zeit erst lernen. Durch den Abstand, den ich seit der Abschaltung der Webseite gewonnen habe, kann ich solche Kontaktaufnahmen mittlerweile ein bisschen gelassener hinnehmen.

Derartige „Hinweise“ von Privatpersonen sind ganz sicher eine der negativen Auswirkungen meines früheren Mitwirkens an True-Crime-Formaten. Das muss man wohl in Kauf nehmen, wenn man in die Öffentlichkeit geht und Hinweise erhalten möchte. Damals war das für mich richtig, weil ich das Gefühl hatte, ich tue alles, um dabei zu helfen, den Fall aufzuklären, und auch, um unter Umständen Druck bei Ermittlungsbehörden zu machen.

Dass ich nicht mehr aktiv suche, heißt übrigens nicht, dass ich keine Fragen mehr habe zu dem Fall.

Ingrid Liebs

Aus heutiger Sicht wäre mein Appell, sich nur dann bei Opfern zu melden, wenn man Informationen hat, die wahr und nachprüfbar sind. Und man muss bereit sein, sich nicht hinter einer Anonymität zu verstecken. Nach diesen Kriterien darf mich jeder kontaktieren, und dann setze ich mich mit Hinweisen auseinander. Wenn diese Kriterien jedoch nicht erfüllt sind, ist es unverantwortlich, Opfer zu kontaktieren, man sollte es dann einfach sein lassen. Das erspart den Betroffenen Zeit und Unruhe, denn jeder Hinweis führt dazu, dass  man sich damit beschäftigt, und bis man schließlich herausgefunden hat, dass gar nichts dahintersteckt, geht es einem vielleicht gar nicht gut.

Dass ich nicht mehr aktiv suche, heißt übrigens nicht, dass ich keine Fragen mehr habe zu dem Fall. Die sind nach wie vor da. Zum Beispiel im rechtsmedizinischen Bereich, weil ich nicht sicher bin, ob da alles gut gelaufen ist, denn ich musste entdecken, dass die Untersuchung mancher Dinge ursprünglich vergessen wurde. Demnächst habe ich daher zum Beispiel ein Treffen mit einem bekannten Forensiker. Mal schauen, ob sich dabei ein paar meiner Fragen klären lassen.

Es stand mal im Raum, dass er eine große Pressekampagne mit mir machen wollte. Aber ich habe Nein gesagt, das will ich nicht, solange es nichts wirklich Neues gibt, etwas, bei dem es Erfolgsaussichten darauf gibt, in Fraukes Fall weiterzukommen. Ich habe nach wie vor einen Anwalt, den ich auch behalte. Wenn der Fall aufgeklärt würde, würde ich bei einem Gerichtsprozess mit ihm in die Nebenklage gehen.

Im Frühjahr 2023 hatte ich gefordert, dass Medienleute empathischer und sensibler sein sollten, wenn sie an Opfer herantreten. Die Anfragen, die ich seitdem erhalten habe, waren in der Art der Ansprache in Ordnung, wobei es natürlich schwer zu sagen ist, ob es einen direkten Zusammenhang gibt. In der Regel kamen die Anfragen per Mail, das ist mir auch am liebsten, weil ich dann Zeit habe, sie in Ruhe zu lesen, zu reflektieren und auch meine Worte in Ruhe zu wählen, mit denen ich darauf gut überlegt und differenziert reagiere, wie ich die Absage vernünftig verpacke. Ich will ja die Menschen, die mich anfragen, nicht vor den Kopf stoßen. Aber ich will schon klar vermitteln, dass es für mich im Moment keinen Anlass gibt, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Es sei denn, es ergibt sich ein ganz neuer, erfolgversprechender Ermittlungsansatz, irgendetwas Handfestes, bei dem ich eine substanzielle Chance sehe, dass ich zur Aufklärung beitragen kann. Dann wäre ich bereit, noch mal in der Öffentlichkeit aufzutreten und diese zu nutzen.

Ich schaue heute ab und zu mal einen Krimi im Fernsehen, aber das ist in der Regel ja Fiktion. True-Crime-Podcasts höre ich grundsätzlich nicht und gucke auch keine Filme aus diesem Genre. Daran habe ich einfach kein Interesse mehr. Ich habe genug eigene Erfahrungen gemacht. Ich kann niemanden daran hindern, Fraukes Fall aufzugreifen. Aber ich gebe keine Interviews und gehe nicht vor die Kamera, um irgendjemandem ein tolles Fernsehprogramm oder eine tolle Zeitung zu liefern oder um das Thema so am Köcheln zu halten, obwohl es nichts Neues gibt. Denn was soll das bringen? Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen.“

Protokoll: Nina Lenhardt

Zum Weiterlesen: Die Geschichte aus dem Jahr 2023

Für unser Titelthema „True Crime – Wa(h)re Verbrechen“ sprach unsere Redakteurin Nina Lenhardt Anfang 2023 mit der ehemaligen Schuldirektorin Ingrid Liebs, deren Tochter Frauke im Jahr 2006 ermordet wurde. Der Fall ist bis heute ungelöst. Liebs beschrieb, dass sie als Betroffene auf Antwortsuche Öffentlichkeit benötige und die Zusammenarbeit mit Medien deshalb als „Win-win-Situation“ ansehe.

Transparenzhinweis:

Ingrid Liebs ist ehrenamtliche Mitarbeiterin des WEISSEN RINGS. Seit Januar 2020 leitet sie die Außenstelle Minden-Lübbecke des Vereins.