Digitale Gewalt

Hass aus dem Handy

Ein TikTok-Clip wird für den Jugendamtsmitarbeiter Said zum Albtraum. Das Video voller Beleidigungen gegen ihn steht seit mehr als einem Jahr online – alle Versuche, es verschwinden zu lassen, blieben erfolglos. Warum löscht TikTok es nicht? Kommen deutsche Behörden ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Beschäftigten bei digitaler Gewalt nach? Was macht der Hass aus dem Handy mit Menschen wie Said?

Foto: Midjourney

I. Das Video

Für Said begann der Albtraum mit dem Anruf eines Freundes. „Schau dir das Video auf TikTok  an, das könnte dich interessieren. Da geht es um dich“, sagte der Freund und schickte ihm einen Link zu TikTok. Der Mann im Video spricht arabisch und beleidigt darin den Mitarbeiter des Jugendamtes sowie dessen Eltern mit derben Worten:

„Ein Schwein,

Sohn eines Schweins,

Sohn einer Hure, arbeitet beim Jugendamt…“

Said kennt den Mann nicht persönlich, der das Video aufgenommen hat und ihn so massiv beleidigt. Und obwohl Said nicht namentlich genannt wird, ist sofort klar, dass er gemeint ist. Es werden Details erwähnt, die nur auf ihn zutreffen. Es arbeiten nur sehr wenige Männer mit arabischen Wurzeln im Jugendamt seiner Stadt. Said ist Sozialarbeiter und holt in Extremfällen schutzbedürftige Kinder aus gewalttätigen Familien.

So auch in dem Fall, der in diesem Video geschildert wird. Der Mann auf TikTok kennt Einzelheiten aus dem Fall und positioniert sich klar für den Vater, dem die Kinder entzogen wurden, und gegen den Mitarbeiter des Jugendamtes. Gegen Said.

Ein belebtes Café nahe dem Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt, aus den Boxen schallt aktuelle Popmusik. Said kommt eine halbe Stunde zu spät zum vereinbarten Termin. Er entschuldigt sich, ein Anruf kurz vor Feierabend habe ihn aufgehalten. Im Extremfall hätte er wieder ein schutzbedürftiges Kind aus einer gewalttätigen Familie holen müssen. Doch heute nicht. Kaffee? Tee? Etwas zu essen? Said winkt ab und beginnt sofort zu erzählen, wie es sich anfühlt, auf TikTok massiv beleidigt zu werden. Er ist sichtlich aufgewühlt. „Dieses Video beschäftigt mich sehr. Und wieso gibt es bei meinem Arbeitgeber niemanden, der für solche Fälle zuständig ist?“

Fast 24.000 Aufrufe verzeichnet das Video inzwischen.

Saids Fall zeigt, wie allein sich Opfer massiver Beleidigungen auf Social-Media-Plattformen fühlen. Wie ein hasserfüllter Clip einen gesellschaftlichen Rückzug auf Raten und Ängste auslösen kann. Und wie Arbeitgeber die Gefahren dieses digitalen Giftes für ihre Mitarbeitenden immer noch unterschätzen.

II. Der Betroffene, privat

Said guckte sich das Video mehrmals an und lud es auf sein Smartphone herunter. Für den Mann in den Vierzigern begann eine emotionale Achterbahnfahrt.

Said ist nicht sein richtiger Name. Er möchte anonym bleiben. Früher war er ein öffentlicher Mensch. Mehr als zehn Jahre engagierte er sich in der Flüchtlingshilfe, gab Interviews und nahm an Podiumsdiskussionen teil. Sein Rat war gefragt. Seine private Telefonnummer kursierte in vielen Gruppen und Netzwerken. Seitdem es das Video gibt, ist das anders. Seine Nummer hat Said seitdem nicht mehr rausgegeben. Said sagte sich sogar von Freunden los, weil sie seinen Wunsch nach Anonymität nicht respektierten und seine Handynummer weiter in WhatsApp-Gruppen teilten.

„Anrufe von Menschen, deren Nummer ich nicht kenne, nehme ich heute nicht mehr an.“ Sein Engagement im Freiwilligenbereich hat er fast auf null reduziert, obwohl es ihm fehlt. Medienanfragen lehnt er fast immer ab.

Said entfernte alle Bilder aus seinen Social-Media- Profilen und änderte seine Namen. Früher hielt er über Facebook Kontakt zu Familienmitgliedern, die in der ganzen Welt verstreut leben. „Heute nutze ich Facebook fast gar nicht mehr.“ Und es fällt auf, dass er deutlich schlanker ist als auf den alten Fotos in den Zeitungen und in den Videos von den Podiumsdiskussionen. Er wiege rund 15 Kilo weniger als damals, bestätigt Said. Er denkt nach und sagt: „Ich habe mich seit diesem TikTok-Clip mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, um mich zu schützen.“ Wenn ihn heute jemand fragt, wo er arbeitet, sagt Said nicht mehr „im Jugendamt“, sondern nur noch „in der Verwaltung“.

III. Die Social-Media-Plattform

Wer bei TikTok ein Video entdeckt, das gegen die Richtlinien des Unternehmens oder gegen Gesetze verstößt, kann es der Plattform melden. Im Fall von Said hat auch die Redaktion des WEISSEN RINGS mehrere solcher Meldungen versucht. Ohne Erfolg. Die Plattform teilte jeweils kurz mit: „Wir haben das Video, das du gemeldet hast, überprüft und festgestellt, dass es nicht gegen unsere Community-Richtlinien verstößt.“

„Du unehrlicher Sohn…“

„Der Hund, der niederträchtige und gemeine,

der beim Jugendamt arbeitet.“

„Die Richterin, ‚die Hure‘…“

„Der Hurensohn…“

Diese Beleidigungen gegen Said und die zuständige Familienrichterin verstoßen nicht gegen Community-Richtlinien? Auf einer Plattform, die „eine Quelle der Unterhaltung und Bereicherung“ sein will? Deren „Mission“ es nach eigenem Bekunden ist, „Kreativität zu fördern und Freude zu bereiten“?

Für Experten wie Hanno Wilk kommt die Reaktion von TikTok nicht überraschend. „Die Community-Richtlinien haben andere Kriterien als das deutsche Strafrecht“, sagt der Oberstaatsanwalt. Wilk leitet das Team „Hate Speech“ in der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. „Tatsächlich ist das, was wir für strafbar halten, den Plattformbetreibern häufig völlig egal.“ In Saids Fall handelt es sich mutmaßlich um Beleidigungen nach §185 des Strafgesetzbuches. Die mächtige Trompete TikTok bläst diese Beleidigungen in die Welt, potenziell erreichbar für Millionen Menschen. Hunderte haben auf das Herz neben dem Beitrag geklickt, um zu zeigen, dass ihnen das Video gefällt. Dutzende haben das Video geteilt. Es sind Beleidigungen in Dauerschleife.

IV. Der Betroffene, beruflich

Nachdem Said das Video zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er tagelang nicht schlafen. Gedanken ratterten ihm in Endlosschleifen durch den Kopf:

„Gibt es weitere Videos, vielleicht sogar welche, in denen ich namentlich genannt werde?

Wie viele Menschen wissen davon?

Wie kann ich das rausfinden?“

„Ich habe ein dickes Fell, ansonsten wäre ich an dieser Situation zerbrochen“, sagt Said. Der Job härtet ab. „Wir sind im Jugendamt täglich Gefahren ausgesetzt, erleben häufig Grenzsituationen.“ Es gebe Foren im Internet, in denen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter offen und namentlich angefeindet werden. Said wurde im Einsatz schon mit einem Tisch attackiert und auch bestohlen. Aber die Auswirkungen dieses Videos auf TikTok, dieser digitalen Form von Gewalt, wiegen für ihn weitaus schwerer. „Diese massiven Beleidigungen, vor allem gegen meine Eltern, kann ich nicht einfach so ignorieren“, sagt Said. Manchmal schreie er, um seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Sport und Spaziergänge mit seinem Hund helfen ihm dabei. Seinen Eltern hat er nichts von dem Video erzählt. Nur wenige Menschen sind eingeweiht, „falls mal etwas passiert“, sagt er.

Denn Said betreut den Vater, dem er die Kinder entzogen hat, zunächst auch nach der Veröffentlichung des Videos weiter. Er denkt lange Zeit nicht daran, den Fall abzugeben. „Ich wollte das nicht. Dann hätte er doch genau das erreicht, was er mit diesem Machtspielchen erreichen wollte“, beschreibt Said seine Gedanken. Er wollte nicht an sich selbst zweifeln. Rein fachlich habe es überhaupt keinen Grund gegeben, den Fall abzugeben. Lange Zeit habe das funktioniert, auch wenn er nach jedem Termin völlig ausgelaugt gewesen sei, berichtet Said. Und noch etwas habe ihn beschäftigt: „Ich hatte die Sorge, dass aus dem digitalen Hass ein Mob im echten Leben wird.“ Tatsächlich hat der betroffene Vater Said einmal attackiert und musste sich deshalb sogar vor Gericht verantworten. Auch wenn Said in der Verhandlung das TikTok-Video auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft zumindest erwähnte: Er kann nicht beweisen, dass sein Klient dahintersteckt, auch wenn die Details im Video mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dafür sprechen.

Anzeige gegen den Urheber des Videos hat Said nie erstattet. Er reiht sich damit nahtlos ein in eine überwiegende und schweigende Mehrheit, wie aus der jährlich aktualisierten und repräsentativen Studie „Hate Speech“ des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Landesanstalt für Medien in Nordrhein-Westfalen hervorgeht. Demnach melden Menschen Hasskommentare bei den Plattformen zwar immer häufiger – im Jahr 2019 waren es 25 Prozent der Befragten, die schon mal einen Hasskommentar bzw. dessen Verfasser beim entsprechenden Social-Media-Portal gemeldet haben. Im Jahr 2023 waren es schon 30 Prozent. Beleidigungen im Internet werden jedoch so gut wie nie angezeigt. Die Polizei ermittelt aber nur dann, wenn eine Anzeige vorliegt, denn Beleidigungen sind reine Antragsdelikte. Beratungsstellen wie HateAid weisen darauf hin, dass Betroffene hohe Prozesskosten fürchten oder Angst haben, im Zuge eines Gerichtsverfahrens ihre Privatadresse der gegnerischen Partei preisgeben zu müssen. Und manchen Menschen fehlt auch einfach die Kraft, sich juristisch damit auseinanderzusetzen.

V. Der Arbeitgeber

Said hat klare Vorstellungen davon, wer ihm hätte helfen müssen. Als Angestellter im öffentlichen Dienst sieht er seinen Arbeitgeber in der Pflicht. Einen Tag, nachdem er das Video gesehen hat, meldet er den Vorfall seiner Behörde. „Ich habe gesagt: Folgendes ist passiert, könnt ihr was machen?“ In einer langen E-Mail entgegnet ihm die Stadt, so berichtet es Said, die Beleidigungen seien nicht im dienstlichen Rahmen passiert, sondern in einem privaten Kontext. Die Stadt sei nicht zuständig, er müsse den privatrechtlichen Weg einer Unterlassungsklage gehen, auf Schadenersatz klagen oder Ähnliches. Said ist sauer: „Ich hole schutzbedürftige Kinder nicht privat aus Familien, sondern in meiner beruflichen Rolle. Wenn ich ein grundgesetzliches Wächteramt ausübe, dann erwarte ich von meinem Arbeitgeber, dass er mich schützt!“ Hätte er den Menschen privat verklagt, wäre er womöglich auf Kosten sitzen geblieben. Und er hätte womöglich seine Privatadresse angeben müssen – das wollte er auf keinen Fall. Zumindest seine Teamleitung im Amt habe ihn unterstützt, ihm Supervision ermöglicht. Das habe ihm mental geholfen, erzählt Said.

Man würde die Stadt gern selbst fragen, wieso sie so gehandelt hat und nicht anders und ob das der alltägliche behördliche Umgang mit digitaler Gewalt ist. Aber Saids Wunsch nach Anonymität ist zu respektieren. Also hat die Redaktion des WEISSEN RINGS eine Umfrage unter allen 82 deutschen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern gestartet. Von 38 gaben 92 Prozent an, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von digitaler Gewalt betroffen sind. Die Hälfte der Behörden verfügt nach eigenen Angaben über Richtlinien oder Verfahren wie hausinterne Meldesysteme im Umgang mit digitaler Gewalt. 29 gaben in ihrer Antwort an, dass Beschäftigte in den vergangenen zwölf Monaten körperlich angegriffen wurden.

Das Ergebnis unserer Umfrage wird auch durch eine Studie des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung aus dem Jahr 2022 untermauert, für die mehr als 10.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes befragt wurden: Demnach haben 23 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bereits Gewalterfahrungen gemacht, 12 Prozent erlebten sogar mehrere Vorfälle innerhalb eines Jahres. „Wir müssen mehr tun, um die Menschen zu schützen, die unser Land jeden Tag am Laufen halten – ob auf dem Amt oder als Retter in der Not“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Vorstellung der Studie. „Das gebietet die Fürsorgepflicht für die Beschäftigten. Und das ist eine Frage des Schutzes unserer Demokratie vor Verrohung, Hass und Gewalt.“

Fürsorgepflicht? Said kann da nur den Kopf schütteln. Im Gespräch mit vielen Kolleginnen und Kollegen habe sich sein Eindruck verfestigt, dass Mitarbeitende mit digitalen Gewalterfahrungen alleingelassen werden. „Bei persönlichen Angriffen hast du Instrumente wie Hausverbote, aber bei Social-Media-Angriffen sind Arbeitgeber sehr weit davon entfernt, ernsthaft damit umzugehen.“ Vielleicht liegt das auch daran, dass digitale Gewalt immer noch zu wenig als gravierendes Problem wahrgenommen wird.

VI. Der Betroffene, allein

Said fühlt sich von TikTok alleingelassen, weil die Plattform das Video online lässt. Er fühlt sich von früheren Freunden alleingelassen, die seine Not nicht verstanden haben. Und er fühlt sich von seinem Arbeitgeber alleingelassen. „Ich hätte mir jemanden bei der Stadt gewünscht, der mich professionell unterstützt und alle rechtlichen Schritte übernimmt. Eine Stelle, die sagt: Wir kümmern uns drum“, sagt Said. Dann bittet er darum, das Gespräch zu beenden. Er verabschiedet sich höflich und verlässt das Café nach rund eineinhalb Stunden, ohne etwas bestellt zu haben. Später wird er eine WhatsApp-Nachricht schicken mit einem Link zum TikTok-Clip, der vor mehr als einem Jahr erschienen ist und der sein Leben so verändert hat.

Der Clip ist immer noch online. Seit mehr als einem Jahr.

Den Fall des Vaters, um den es in dem Video geht, hat Said mittlerweile doch an einen Kollegen abgegeben.

Christoph Klemp

  • Der Autor hat einen Selbstversuch unternommen, um das Video löschen zu lassen. Über seine Erlebnisse berichtet er in dem Artikel „Keine Verstöße gefunden“.