Es gibt Dinge, die einfach nicht zueinander zu passen scheinen. Feuer und Wasser zum Beispiel oder – und darum soll es hier gehen: Boulevardjournalismus und Opferschutz. Opfer von Verbrechen, Unfällen oder großen Katastrophen und ihre Angehörigen sind verletzt und verletzlich. Journalisten, und unter ihnen besonders die Boulevardjournalisten, leben quasi von dem Leid anderer Menschen. Sie haben die zynische Journalisten-Regel im Blut: Only bad news are good news. Je schrecklicher ein Verbrechen, je größer das Unglück, je größer die Zahl der Opfer – desto größer die Schlagzeile, desto hemmungsloser die Reporter.
Fairerweise muss man hinzufügen: Das gilt zwar in besonderem Maße für Boulevard-Blätter wie die „Bild“-Zeitung oder den Kölner „Express“. Dies gilt aber in Wahrheit für alle Medien, seit es Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen gibt. Und leider erst recht, seit es die sogenannten „Sozialen Netzwerke“ gibt, auf denen jede und jeder nahezu ohne jede Einschränkung die Tür zu wirklich allen denkbaren menschlichen Abgründen aufreißen kann.
34 Jahre selbst als Journalist gearbeitet
Ich habe 34 Jahre lang als Journalist gearbeitet, beinahe die Hälfte der Zeit beim „Express“, bei „Bild“ und „Bild am Sonntag“. Und ich hatte das Pech (oder das Glück?), mich gleich zu Beginn meiner Laufbahn mit den Themen Tod, Opferschutz und der Frage „was geht und was geht nicht?“ auseinandersetzen zu müssen: Im Juli 1976 hatte ich meine ersten Zeilen als freier Mitarbeiter im Lokalteil der „Bonner Rundschau“ geschrieben, kein Boulevardblatt, sondern eine eher piefige kleine Zeitung. Im August war mein Vater gestorben, und kaum war ich wieder in der Redaktion, stießen am 10. September 1976 über Zagreb zwei Flugzeuge zusammen. Eines voller Urlauber auf dem Heimweg von Split nach Köln. 107 Todesopfer aus dem Verbreitungsgebiet der Zeitung.
Völlig empört wies ich den Auftrag meines Redaktionsleiters zurück, mich auf den Weg zu machen, um bei Angehörigen Fotos der Opfer aufzutreiben. Dies umso mehr, als ja gerade erst mein Vater gestorben war und ich zum ersten Mal erfahren hatte, wie man sich fühlt, wenn gerade ein Angehöriger gestorben ist. Aber alle (!) in der Redaktion, auch mein Betreuer, machten mir klar: Wenn ich mich jetzt nicht auf den Weg mache, habe ich den falschen Beruf gewählt.
Also zog ich mit weichen Knien und flauem Magen los, klingelte bei mir völlig fremden Menschen in einer absoluten Ausnahmesituation an der Tür, kondolierte und bat um Fotos ihrer toten Angehörigen und entschuldigte mich zugleich für diese Übergriffigkeit.
Niemand knallte die Tür zu
Ich hatte fest damit gerechnet, dass mir entweder gar nicht geöffnet werden würde – oder spätestens bei der Vorstellung die Tür wieder zugeknallt worden wäre. So, wie ich es wohl als Opfer gemacht hätte.
Es geschah genau das Gegenteil. Ausnahmslos alle öffneten nicht nur bereitwillig, sondern baten mich herein, kochten Kaffee und erzählten mir ihre Geschichte, suchten schöne Fotos ihrer Verstorbenen heraus. In einem Fall wurde mir sogar die letzte Ansichtskarte der verunglückten Urlauber geradezu aufgedrängt. Am Ende des Tages hatte ich zirka 15 Fotos „eingesammelt“ – und besagte Ansichtskarte.
Diese Geschichte hat mich noch lange und intensiv beschäftigt, weil ich meinen Job einerseits als unanständig empfunden, ihn mir andererseits aber schöngeredet hatte: Habe ich nicht letztlich ein gutes Werk vollbracht, weil ich aufgelösten traurigen Menschen einfach zugehört habe? Ein befreundeter Pfarrer lieferte mir sogar noch den biblischen Unterbau und erwähnte 1. Mose 16,13: „Du bist der Gott, der mich sieht“ – und sagte mir: Opfer sind zutiefst traurig, aber sie wollen auch gesehen werden.
Die Wahrheit ist – nüchtern betrachtet – wohl eine andere: Es war nichts anderes als das sogenannte „Witwenschütteln“, also eine emotionale Ausbeutung wehrloser Opfer zum eigenen Nutzen.
Diese Ausbeutung ist bis heute gang und gäbe. Beinahe täglich werden Menschen, die eigentlich besonders schutzbedürftig sind, durch die Medien getrieben. Wir verurteilen das einerseits moralisch, müssen uns aber immer wieder an die eigene Nase fassen, auch als Konsumenten dieser Medien.
Wenn wir ehrlich sind, ist es vermutlich eine große Mehrheit, die zwar in der Öffentlichkeit moralisch und anständig ist. Aber insgeheim sind wir alle wohl nicht frei von Neugier bis hin zur Sensationslust und heimliche Gaffer. Vielleicht nicht am Ort der Tragödie, aber dann am Zeitungskiosk, zu Hause vor dem Fernseher oder anonym bei Facebook, Twitter und Co. Der Vorwurf der Verrohung, des Zynismus und der sozialen Verwahrlosung ist also nicht nur gegen Redaktionen zu erheben, sondern zu einem großen Teil auch gegen uns selbst. Aber wer tut das schon gern?
Rügen beeindrucken allenfalls kleine Zeitungen
Für Journalisten und Journalistinnen sollte die Sache eigentlich klar sein: Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht. Opfer von Verbrechen und Katastrophen bedrängt man nicht. Sie müssen davor geschützt werden, dass die intimsten Dinge – zu denen natürlich Tod, Leid und Beschädigung gehören – an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Das gebietet nicht nur der Pressekodex des Deutschen Presserats. Das gebietet der Anstand.
Daraus kann man ableiten, dass sich exzessive Berichterstattung, die Veröffentlichung von Namen, Adressen und Fotos verbietet. Die Praxis zeigt aber: Trotz aller Regeln und Appelle funktioniert es nicht. Darüber kann man sich empören. Aber das ist nicht die Lösung. Weil sich nichts ändert.
Die Frage ist, wie das Problem in den Griff zu kriegen ist. Natürlich kann man Gesetze ändern, Fehlverhalten mit Strafe und / oder Geldbuße bedrohen. Meine Prognose ist: Da wird man sich in einem Labyrinth zwischen Persönlichkeitsrecht, Pressefreiheit und Angemessenheit über eine lange Zeit verirren.
Und selbst, wenn es hohe Geldstrafen gäbe – man darf nie vergessen: Bei „Bild“ wie RTL, Sat.1 und anderen geht es immer um knallharte wirtschaftliche Interessen. Dort verdient man Geld eben auch mit dem Ausschlachten von Opfern und deren Schicksalen, möglichst viel und möglichst auf allen denkbaren Kanälen.
Die härteste Strafe des Deutschen Presserats ist eine öffentliche Rüge – und die beeindruckt vielleicht eine kleine Zeitung, die kaum jemand wahrnimmt. Auf die großen Player hat das keinerlei Wirkung, wie wir wissen. Selbst, wenn hier und da ein Opfer so viel Kraft aufbringt und sich wehrt, vielleicht von einem Gericht ein Schmerzensgeld zugesprochen bekommt: Das wird von Verlagen und Sendern ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt. Der Gewinn ist meist größer als der Verlust.
Der einzig sinnvolle Einsatz von Boulevardjournalismus auf dem Gebiet des Opferschutzes könnte nur eine stärkere Ausrichtung der Berichterstattung auf Prävention sein: Wie schütze ich mich? Worauf sollte ich achten? Aber auch da sitzt man dann wieder in der Falle: Boulevardjournalismus funktioniert nur mit Bild und Ton, also mit echten Menschen, die dazu bereit sind, dass ihr Schicksal öffentlich wird. Das darf man nie vergessen. Es gibt Menschen, die sich darauf einlassen. Und einige wenige, die dafür sogar ein Honorar einstreichen. Meist sind das ärmere Opfer, die so in Not sind, dass sie sich ihr Leid abkaufen lassen.
Für alle, die das nicht wollen, gibt es nur eine Rettung: Rollläden runter, Tür zu, Handy aus und kein einziges Wort sagen. Bis die Meute wieder weg ist. Und alle Verwandten, Nachbarn und Bekannten bitten, sich auch so zu verhalten. Und das mindestens eine Woche durchhalten.
Georg Streiter hat 33 Jahre für verschiedene Zeitungen („Express“, „Hamburger Morgenpost“, „Bild“, „Bild am Sonntag“) und Zeitschriften („Stern“, „Max“) gearbeitet. Von 2011 bis 2018 war er stellvertretender Sprecher der Bundesregierung bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. Seitdem arbeitet er als selbstständiger Kommunikations- und Politikberater in Berlin und schreibt für seinen eigenen Blog „Wiedervorlage“ (www.georgstreiter.de) über Politik und Medien.