Straßburg – Der Europarat hat in Deutschland gravierende Defizite beim Schutz von Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt festgestellt. Zwar seien einige Entwicklungen im deutschen Strafrecht begrüßenswert, teilte die Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Grevio) in ihrem ersten Bericht über Deutschland am Freitag mit. Dazu zählten etwa die ausdrückliche Kriminalisierung von technologiegestütztem Missbrauch wie Cyber-Stalking oder des unerlaubten Fotografierens privater Körperteile.
Abgesehen davon müsse Deutschland aber noch viel tun:
- Frauenhäuser und Beratungsstellen seien sehr ungleich verteilt und gerade in ländlichen Gegenden rar gesät. In größeren Städten gebe es zwar grundsätzlich Beratungsangebote für die meisten Formen von Gewalt, oft aber mit langen Wartelisten. Das Gremium forderte, dass alle weiblichen Gewaltopfer kostenlosen Zugang zu speziellen Unterkünften für häusliche Gewalt haben sollten.
- Außerdem müsste es mehr Schulungen geben, damit Menschen, die mit Opfern oder Tätern von Gewalt zu tun haben, diese auch erkennen können.
- Die Experten forderten weiter einen Überprüfungsmechanismus für häusliche Tötungsdelikte. Damit sollen alle geschlechtsspezifischen Tötungen von Frauen analysiert werden, um zu erkennen, wo die Institutionen anders reagieren müssten. Insgesamt fehle bislang ein nationaler Aktionsplan, wie ihn die Istanbul-Konvention eigentlich vorsehe.
- Behörden müssten außerdem sicherstellen, dass die Ausübung von Umgangs- oder Sorgerecht nach häuslicher Gewalt nicht die Rechte und die Sicherheit der von Gewalt betroffenen Frau oder ihrer Kinder gefährde. (Artikel 31 der Istanbul-Konvention).
- Zudem sollen die Bedürfnisse besonders verletzlicher Gruppen, wie Frauen mit Behinderungen, geflüchteter Frauen oder queeren Menschen, berücksichtigt werden. Jede Frau und ihre Kinder müsse einen gesicherten Zugang zum Hilfesystem haben.
- Der Bericht stellt fest, dass „negative geschlechtsspezifische Stereotypen und Haltungen der Täter-Opfer-Umkehr in der deutschen Justiz fortzubestehen scheinen“. Richtet sich sexuelle Gewalt gegen eine frühere oder aktuelle Ehepartnerin, werde das vor Gericht eher als mildernder denn als erschwerender Umstand angesehen.
Familienministerin Paus will Koordinierungsstelle einrichten
Bundesfrauenministerin Lisa Paus reagierte noch am Freitag auf den Bericht. „Ich stehe zur vorbehaltlosen Umsetzung der Istanbul-Konvention. […] Wir werden daher das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder absichern.“ Nach Angaben von Paus sei mit den Koalitionspartnern vereinbart worden, auf Bundesebene einen Rechtsrahmen für die verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern zu schaffen. Zudem soll in der Bundesregierung eine Koordinierungsstelle eingerichtet werden, die eine ressortübergreifende Strategie zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen erarbeitet. „Außerdem wird mein Ministerium noch in diesem Jahr eine unabhängige Beobachtungsstelle schaffen“, sagte Ministerin Paus.
Brandbrief an die Politik
„Es ist gut, dass der Europarat so deutlich den Finger in die Wunde legt und Defizite beim Schutz von Frauen in Deutschland sichtbar macht“, sagte am Freitag der Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, Dr. Patrick Liesching. „Die Istanbul-Konvention ist ein gutes Abkommen, nur muss es auch entsprechend umgesetzt werden.“
Vorschläge, wie das gelingen könne, hatte der WEISSE RING bereits im Januar in einem Brandbrief an hochrangige Politiker formuliert. Die wesentlichen Punkte:
• Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz müssen kontrolliert werden. In Spanien zum Beispiel wird ein Bedroher nach einer solchen Anordnung in Echtzeit elektronisch überwacht; nähert er sich seinem Opfer, werden umgehend Polizei und die betroffene Frau informiert.
• Beim Hochrisikomanagement zum Schutz bedrohter Frauen gibt es erhebliche Unterschiede in den Bundesländern. Der WEISSE RING fordert eine bundesweite Regelung.
• Zudem fehlt es an wissenschaftlich fundierten systematischen Ansätzen zum Umgang mit dem Gefährdungspotenzial eines Bedrohers.
Die Istanbul-Konvention
Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden. Vor fünf Jahren ratifizierte Deutschland das Übereinkommen, 2018 trat der Vertrag in Kraft. Mit der Unterzeichnung hat sich Deutschland verpflichtet, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen. Der Europarat wacht über die Einhaltung der Menschenrechte in seinen 46 Mitgliedstaaten. Die Organisation gehört nicht zur EU.
Quellen:
Text: dpa und Christian Ahlers/ WR
Foto: Christian Ahlers/ WR