Es klingelt nur ein Mal, und dann taucht Linn Sommerhoff auf dem Laptopbildschirm auf. Das Gespräch mit ihr findet über Facetime statt, denn seit knapp zwei Jahren lebt die Wirtschaftsjuristin in Brüssel. Der Umzug war für sie kein Grund, ihr Engagement beim WEISSEN RING in der Heimat an den Nagel hängen – im Gegenteil: „Online lässt es sich auch aus dem Ausland toll zusammenarbeiten.“ Seit 2021 ist die 28-Jährige gemeinsam mit Tobias Petrulat Jugendbeauftragte des Landesverbands NRW/Rheinland, ist dort also Ansprechpartnerin für die Jungen Mitarbeiter bis 35 Jahre und arbeitet überwiegend an Präventionsprojekten. Für die jungen Ehrenamtlichen, laut Sommerhoff allesamt sehr engagiert und aktiv, ist die Koordination über das Internet völlig selbstverständlich.
Arbeiten im Herzen der EU
In die belgische Hauptstadt kam Linn Sommerhoff nach ihrem Jura-Staatsexamen in Deutschland, in Brüssel hängte sie einen Master dran: Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Außenpolitik. Da war der Dreh- und Angelpunkt der europäischen Politik idealer Studienort. Danach arbeitete sie für ein paar Monate in einem Think-Tank und ihr wurde klar: Hier will ich bleiben. Ganz bescheiden, fast nebenbei, erwähnt sie ihre aktuelle Arbeitsstelle. „Seit September 2022 arbeite ich bei einer NGO, als Policy Assistant, also in einem absoluten Einstiegsjob“, erzählt sie mit einem Lächeln. Sie hilft bei der Strategieentwicklung der Nichtregierungsorganisation, nimmt an Sitzungen der EU-Institutionen teil und berichtet darüber und behält die Entwicklung sozialpolitischer Themen im Blick, für die sich ihr Arbeitgeber einsetzt.
Das Büro der jungen Frau liegt mitten im Europaviertel, in einem Gebäude, das typisch ist für Brüssel: alt, etwas heruntergekommen, mit flämischer Klinkerfassade und einem großen Tor. Über das Kopfsteinpflaster vor dem großen Eingangstor brettert schon mal der ein oder andere Diplomatenwagen mit getönten Scheiben. Direkt gegenüber ragt der architektonische Gegensatz in den Himmel: ein riesiges, modernes Glasgebäude der Europäischen Kommission. Es ist das Viertel der Abgeordneten, Juristen, Lobbyisten und ambitionierten Praktikanten. Die Stellen hier sind hart umkämpft, Menschen aus aller Welt hoffen, etwas zu verändern und die europäische Politik zu beeinflussen. So auch die gebürtige Ruhrpottlerin, die sagt: „Soziale Gerechtigkeit ist mir ein großes Anliegen.“
Hilfsprojekte in Tschernobyl
Das Interesse Sommerhoffs für andere Kulturen und deren soziale Situation wurde im Jahr 2004 geweckt. Die meisten Deutschen denken zu dieser Zeit nicht mehr an den Reaktorunfall von Tschernobyl, längst bewegen neue Unglücke die Welt. Nicht so in Mülheim an der Ruhr: Die Eltern von Linn Sommerhoff, sie ist gerade zehn Jahre alt, nehmen in den Sommerferien ein gleichaltriges Mädchen aus Tschernobyl für einen sogenannten Erholungsurlaub auf. „Meine Eltern arbeiten beide im Sozialwesen und haben sich beruflich und privat immer für andere eingesetzt“, erzählt Sommerhoff. Natürlich habe es eine Sprachbarriere gegeben, „aber wir haben es irgendwie geschafft, uns zu verständigen.“ Die damals Zehnjährige lernt: Es gibt Menschen, denen es nicht so gut geht wie ihr selbst. Kurz darauf reist sie im Rahmen eines Hilfsgütertransports mit ihrer Mutter in die Nähe von Tschernobyl. Vor Ort sieht sie die Bedingungen, unter denen die Menschen leben, die Folgen des Unfalls. Und diese ersten Begegnungen haben wohl den Grundstein gelegt für Linn Sommerhoffs berufliche Karriere.
Die 28-Jährige hat einen wachen, offenen Blick. Im ersten Moment wirkt sie jünger als sie tatsächlich ist, aber das ändert sich, sobald sie anfängt zu erzählen: eloquent, ernsthaft und mit Nachdruck. Beim Reden gestikuliert sie viel, besonders, wenn sie über Themen spricht, die ihr am Herzen liegen. Und das sind vor allem Menschen. Seit Jahren ist sie viel unterwegs, aber das Angenehme – die Welt sehen – verbindet sie stets mit dem Nützlichen: Hinsehen und mit anpacken. Mit 16 verbringt sie ihre Ferien in den USA. Während andere Schüler in ihrem Alter die Sehenswürdigkeiten der bekannten Metropolen erkunden, kümmert sich Linn Sommerhoff in den ärmeren Vierteln von Philadelphia um benachteiligte Kinder. 2014 ist sie für zwei Monate in Vietnam und unterstützt lokale Hilfsprojekte.
„Man ist da, um zu helfen“
Tschernobyl, Philadelphia und schließlich Vietnam: Bedrückt sie es nicht, wenn sie direkt mit der Armut der Menschen konfrontiert wird? Nachdenklich streicht sich Linn Sommerhoff eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Eigentlich nicht, nein. Man nimmt die Unterschiede und Probleme natürlich wahr. Aber man ist da, um zu helfen und die Situation zu verbessern. Und die Leute freuen sich sehr darüber. Sie jammern nie, sondern machen das Beste aus ihrer Situation.“
Dann gibt es da noch einen Aufenthalt während des Studiums in einer kleinen Stadt in Weißrussland. „Da wird zum Beispiel einfach mal für zwei Tage das Wasser abgestellt“, erzählt Linn Sommerhoff, und ihre Stimme wird vor Empörung etwas lauter. „Ohne Ankündigung – und nicht einmal im Jahr, sondern immer wieder. Die Menschen, die dort leben, sind das gewohnt und machen kein großes Aufhebens darum.“ Aber diese Situation, das merkt man, hat die Wirtschaftsjuristin nachhaltig beeindruckt. Weil ihr bei diesem Aufenthalt wieder einmal deutlich wird, unter welchen Bedingungen Menschen in anderen Ländern leben müssen. Tatenlos hinnehmen möchte die 28-Jährige das nicht. Deshalb die Entscheidung für den Master im Fach Internationale Beziehungen. Sie sagt auch: „Die Entscheider der EU sitzen meist im zehnten Stock. Da ist es gut, wenn Leute von unten sie immer wieder daran erinnern, wie die Situation außerhalb der Parlaments-Bubble wirklich ist.“
Schnell erste Opfer betreut
EU-Parlament. (Foto: privat)
Trotz ihres großen Interesses für fremde Länder, für Hilfsprojekte und das Leben im Ausland: Linn Sommerhoff verbindet viel mit ihrer Heimat. Regelmäßig besucht sie Eltern und Freunde. Und dann ist da noch ihr Ehrenamt in Deutschland. Das nahm 2018 seinen Anfang: „Ich habe – wie alle Jura-Studentinnen – schnell gemerkt, wie trocken und theoretisch das Studium sein kann, und habe nach Möglichkeiten gesucht, mein Wissen praktisch anzuwenden. Aber nicht als Nebenjob, sondern ehrenamtlich.“ Beim Googeln stieß sie auf die Außenstelle Bonn des WEISSEN RINGS, bewarb sich und durchlief das Training. „Danach ging es relativ schnell und ich konnte die erste Betreuung eines Opfers übernehmen. Darüber habe ich mich sehr gefreut.“ In dieser Zeit traf sie oft Opfer, zum Spaziergang oder Kaffee – persönliche Gespräche schaffen mehr Vertrauen als etwa ein Telefonat, man rede dann einfach offener, findet sie. Beim Ehrenamt zeigt sich erneut Linn Sommerhoffs pragmatische Seite und ihr Selbstschutz: „Natürlich gibt es immer wieder Fälle, die einen mehr mitnehmen als andere. Besonders, wenn man die Person bis zum Gerichtsprozess begleitet.“ Aber dafür hatte die damalige Studentin ein Arbeitshandy, das sie abends und am Wochenende ausstellen konnte, um Zeit für sich zu haben und Abstand zu gewinnen, auch in Prüfungsphasen nahm sie sich Auszeiten.
Entscheidungen aus Brüssel haben Einfluss auf den WEISSEN RING
Man könnte annehmen, dass Linn Sommerhoff nach der Arbeit und den zusätzlichen Onlineterminen mit den Ehrenamtlichen aus ihrem Landesverband gerne mal die Tür hinter sich schließt und einen ruhigen Abend allein genießt. Aber so aktiv wie sie im Berufsleben ist, ist sie auch privat. Sie macht sehr gerne Sport, ein Ausgleich zu den langen Sitzungen und Recherchetagen. Und sie hat sich in Brüssel einen internationalen Freundeskreis aufgebaut: „Viele Freunde kommen aus Süd- und Mittelamerika, deshalb versuche ich gerade, nebenbei noch etwas Spanisch zu lernen.“ Oft kochen sie gemeinsam und tauschen landestypische Rezepte aus.
Wie lange Linn Sommerhoff noch in Brüssel bleibt, weiß sie nicht. Ihre Stelle ist auf ein Jahr befristet. Schon jetzt sieht sie deutlich, was sie von hier aus bewirken könnte. „Seit ich diese Nähe zum EU-Parlament und der Kommission habe, ist mir klar geworden, welche Relevanz die EU-Politik auch für Deutschland und die Arbeit des WEISSEN RINGS hat. Man muss sich nur die aktuelle Richtline zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen ansehen. Was hier entschieden wird, beeinflusst auch maßgeblich die Gesetze in Deutschland zu diesem Thema.“ Ein Thema, das der Ruhrpottlerin sehr am Herzen liegt. Ihr Vertrag in Brüssel läuft im Herbst aus. Wo sie weiter dafür kämpfen wird, weiß sie noch nicht. Fest steht: Irgendwo auf der Welt wird sie sich weiterhin für sozialpolitische Themen einsetzen.
Julia Zipfel