Schon eine Autofahrt von einer Viertelstunde reicht, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie Ilse Haase arbeitet. Während sie den Reporter in einem alten Mercedes vom Bielefelder Hauptbahnhof zu ihrem Haus fährt, berichtet sie von dem jungen Paar, das sich am Tag vorher bei ihr gemeldet hat. Das Leben der beiden war bedroht, die Familien hatten etwas gegen die Liebesbeziehung. Vermutlich würde das volle Programm nötig sein, um sie zu schützen – neuer Name, neuer Wohnsitz –, aber erst mal mussten sie vorübergehend eine neue Bleibe finden. Bloß wo? Haase fuhr mit den beiden zu sich nach Hause, machte ihnen was zu essen und führte mehrere Telefonate. Kontakte und Wissen hatte sie schließlich nach 16 Jahren als Leiterin der Außenstelle Bielefeld, Angela Merkels Amtszeit als Bundeskanzlerin war ebenso lang. Natürlich fand Haase eine Unterkunft für die beiden, zumindest für die nächsten Wochen.
Nun sitzt der Reporter an diesem Tisch, an dem sie am Vortag das junge Paar bewirtet hat, und Haase – kurze Haare, stets freundliche Miene – fährt erst mal Brötchen, Käse und Kuchen auf. Man hört ihr noch immer ein wenig an, dass sie weiter nördlich in Deutschland aufgewachsen ist, in Niedersachsen. Die 70-Jährige ist froh, dass ihr der Fall nicht zu Beginn ihrer Zeit beim WEISSEN RING begegnet ist, so aber konnte sie ihre ganze Erfahrung ausspielen. Allzu häufig wird das vermutlich nicht mehr nötig sein, denn so allmählich möchte Rentnerin Haase auch wirklich in Rente gehen. Im vergangenen Jahr hat sie sich beim Radfahren das Bein gebrochen. Weil es ein komplizierter Bruch war, dauerte es lange, bis sie wieder gesund war. Das nahm sie als Zeichen, sich mit ihrer Nachfolge zu beschäftigen. „Selbst als ich in den OP geschoben wurde, habe ich noch mit meinem Vertreter telefoniert, um Dinge zu regeln“, sagt sie.
Die Nachfolge ist mittlerweile geregelt. Jedenfalls so ungefähr. Eigentlich hatte sie schon eine Nachfolgerin aufgebaut, doch aus gesundheitlichen Gründen musste diese absagen. Haase dachte darüber nach, noch so lange weiterzumachen, bis sie eine andere Person gefunden hatte. Davon aber nahm sie Abstand, weil sie sich selbst zu gut kennt: „Ich komme sonst nie davon ab.“ Nach dem Jahresabschluss wird ein Mitglied ihres Teams die Leitung der Außenstelle kommissarisch übernehmen.
Als Ilse Haase ihr Ehrenamt 2007 antrat, arbeitete sie noch als Verwaltungsangestellte bei der Polizei. Häufig schrieb sie die Aussagen von Verdächtigen und Zeugen mit, bekam eine Ahnung davon, was Menschen anderen Menschen antun konnten. Dennoch sagt sie: „Ich habe mir da ehrlich gesagt nicht so viele Gedanken gemacht. Wenn ich fertig war mit meiner Schreiberei, habe ich was anderes gemacht.“ Schon damals lernte sie: Es ist wichtig, nicht alles an sich heranzulassen. Doch da gab es auch diesen Fall mit fünf Getöteten, nur die Großmutter und ihre zwei Enkelkinder überlebten. Haase schrieb mit, als die Frau ihre Aussage machte, die Kinder hatte sie mitgebracht. Eines der Kinder machte sich in die Hosen, Haase bastelte aus Taschentüchern und Toilettenpapier Windeln. Vielleicht war das ihr erster Kontakt mit dem Thema Opferschutz. Sie fragte sich: „Was wird aus den Kindern? Ist die Oma überfordert?“
Eine Arbeitskollegin, eine Polizistin, erzählte Haase häufiger von ihrem Engagement beim WEISSEN RING. Eines Tages machte eine bundesweite Ausstellung vom WEISSEN RING auch im Polizeipräsidium Bielefeld Station. Haase kam jeden Tag daran vorbei, sah Bilder von Frauen mit blauem Auge. Ob sie sich dort einbringen sollte? Als der damalige Leiter der Außenstelle die Ausstellung besuchte, kam sie mit ihm ins Gespräch, bekundete ihr Interesse. Der bot ihr gleich an, seine Nachfolge zu übernehmen.
Damals war Haase noch in der Rumänien-Hilfe tätig – das heißt, sie und ihr Mann waren die Rumänien-Hilfe in Bielefeld, sammelten Kleidung und andere Spenden, fuhren damit zweimal im Jahr nach Rumänien, vermittelten Patenfamilien. Aber immer herrschte wegen der Spenden Chaos im Haase-Keller, und wenn sie mit ihrem Mann unterwegs war, musste sie ihre drei Töchter und den Pflegesohn anderswo unterbringen. Da war ein Ehrenamt für den WEISSEN RING schon leichter umzusetzen. Aber gleich die Leitung übernehmen? Wollte und sollte das nicht jemand machen, der schon mehr Erfahrung gesammelt hatte?
Sie ging zur nächsten Mitarbeiterbesprechung und stellte fest: Es ist ja gar nicht so schwer, Menschen zu helfen. Auch die Leitung übernahm sie wenig später. Schon weil ihr Vorgänger aus familiären Gründen dringend jemanden suchte. „Er war in Not. Da braucht man gar nicht mehr zu hinterfragen“, sagt Haase. Sie sagt es so, als hätte deshalb jeder dem Mann geholfen. Haase war damals 54. Dass sie es noch als Rentnerin machen würde, kam ihr nicht in den Sinn. Ihr Vorgänger hatte die Außenstelle vier Jahre lang geleitet.
In den 16 Jahren bearbeitete Ilse Haase so viele Fälle, dass sie sich längst nicht mehr an alle erinnern kann, auch nicht an die großen, über die die Medien berichteten. Was wieder mal dafür spricht, dass sie die Fälle nicht zu nah an sich heranlässt. Unter anderem, weil sie mit ihrem Mann darüber reden kann, der dem WEISSEN RING gleich mit beitrat, sich in der Außenstelle aber eher um Papierkram und Computer-Angelegenheiten kümmerte.
In all den Jahren habe ihr besonders gefallen, dass man selbstständig arbeiten und eigene Ideen einbringen könne. Außerdem könne man selbst festlegen, was eine „Notwendigkeit“ sei. Haase erzählt von einem Mädchen, das vom Partner der Mutter missbraucht worden war. Als die Tochter der Mutter davon erzählte, warf sie den Mann raus. Ihren Lebensunterhalt musste die Frau nun vom Bürgergeld bestreiten, aber sie wollte mit ihrer 15-jährigen Tochter unbedingt mal was erleben. Sie wandte sich an den WEISSEN RING. Haase zahlte ihr eine Soforthilfe, damit sie mit ihrer Tochter einen Ausflug machen konnte. Das Mädchen habe geweint, weil sie sich so freute, mal rauszukommen, sagt Haase.
„Helfen kann man tatsächlich bei jedem Anruf, und wenn ich nur weiterleite“, sagt Haase. Das ist einer der Gründe, warum sie es 16 Jahre gemacht hat. Manchmal denke sie, der WEISSE RING sei wie eine Oma: „fürsorglich, immer da und rückt auch mal einen Schein raus“. Als sie anfing, bearbeitete der WEISSE RING in Bielefeld weniger als 100 Opferfälle im Jahr, sagt Haase. Nun seien es 300. Das liegt nicht daran, dass mehr Straftaten begangen werden, sondern dass der Verein in der Stadt bekannter geworden ist. Die Vermutung ist nicht allzu kühn, dass Ilse Haase daran einen großen Anteil hat.
Sebastian Dalkowski