Er kann einfach nicht anders. Günter Koschig hat den Mann, der aus dem Goslarer Lokal tritt, torkelnd den Außenbereich durchquert und mit dem Autoschlüssel in der Hand die Parkplätze ansteuert, gleich mit scharfem Blick ins Visier genommen. Koschig sitzt an einem Tisch am Ausgang, legt Messer und Gabel weg, springt auf und fängt den Betrunkenen ab. Er setzt ihn auf eine Bank, Koschigs Tochter kommt dazu, sie sprechen mit dem Restaurantpersonal, rufen einen Freund des Mannes an und warten, bis dieser den Betrunkenen schließlich abholt.
Dass das halb verspeiste Essen auf seinem Teller längst kalt geworden ist, ist Koschig nicht mal die kleinste Bemerkung wert, beschwerdelos nimmt er das Besteck wieder in die Hände. Als wäre nichts geschehen, als wäre sein Verhalten das normalste auf der Welt. Auch Gäste an anderen Tischen hatten aufgeblickt und den offensichtlich stark alkoholisierten Mann beobachtet. Aber niemand machte Anstalten, ihm in den Weg zu treten und ihn davon abzuhalten, in sein Auto zu steigen und loszufahren. Regt sich Koschig wenigstens darüber auf, über mangelnde Zivilcourage? Fehlanzeige.
Der Leiter der Außenstelle im niedersächsischen Goslar nutzt seine Energie lieber, um sein Lieblingsthema an anderer Stelle voranzubringen. Wenn man so mag, könnte man sagen: Günter Koschig ist die Verkörperung von Zivilcourage. 2010 initiierte er die „Goslarer Zivilcourage Kampagne (GZK)“, den Anlass dazu gab der Tod Dominik Brunners nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung an einem Münchener S-Bahnhof im Jahr zuvor. Im Polizeidienst war Koschig Berater für Kriminalprävention, beim WEISSEN RING gehört er seit 1996 dem Fachbeirat Kriminalprävention an, das besondere Engagement in Richtung Zivilcourage war naheliegend. Das Ziel aus Koschigs Sicht: Handlungskompetenzen anbieten, die nicht überfordern.
Zusammen mit Projektpartnern wirbt der WEISSE RING hier im Harz und überall, wo es Koschig hin verschlägt, seitdem für ein Mut machendes Miteinander. Erklärvideos, Lesungen des Autors Fadi Saad in Schulen und Vorträge gehören zum Programm und auch die Ehrung von „Alltagshelden“. Zum Beispiel den jungen Mann, den Koschig ein paar Stunden vor dem Vorfall im Lokal ausgezeichnet hat. Der hatte zwei Einbrecher beobachtet und dafür gesorgt, dass die Polizei das Duo festnehmen konnte. Koschig meint: „Diese Ehrungen sind das Wichtigste, weil sie den Menschen Mut machen, nicht wegzusehen, sondern die 110 zu wählen und den Opfern zu helfen.“
Es reicht Koschig, wenn Veranstaltungen, die er organisiert, gut besucht werden. Nicht nur, aber vor allem, wenn er Kinder und Jugendliche mit seinen Aktionen erreichen kann, „da geht mir das Herz auf“. Ihnen will er die Zivilcourage-Regeln nahebringen: Beobachte die Situation genau! Fordere andere zum Mithelfen auf! Präge dir Tätermerkmale ein! Wähle den Notruf 110! Kümmere dich um das Opfer! Bleib als Zeuge am Tatort! Gefährde dich nicht selbst! „Die jungen Leute sind unsere Zukunft. Wir müssen uns darum kümmern, dass sie Vertrauen in die Polizei haben und Empathie für die Opfer“, meint Koschig.
Für „seine“ Sache, das Werben für Zivilcourage, hat der 68-Jährige genau 116 Unterstützer und Unterstützerinnen gewinnen können, die für GZK-Postkarten und -Plakate posiert haben. Darunter sind zahlreiche Promis, die Liste reicht von Scorpions-Sänger Klaus Meine bis zur Boxweltmeisterin Regina Halmich. Solche „Magneten“ sind wichtig: „Wenn wir mit Regina Halmich in eine Schule gehen und über Zivilcourage sprechen, wirkt das anders, als wenn man dort nur das Strafgesetzbuch vorträgt“, erläutert er, und dabei rutschen die freundlichen Augenbrauen ein Stück nach oben über den Brillenrand hinaus, so wie immer, wenn er ins Erzählen kommt und seinen Ausführungen Nachdruck verleihen möchte. Natürlich, der ehemalige Polizist ist durchaus stolz auf die Kontakte in die Promi-Welt. Aber Koschig ist niemand, der sich überschätzt, der Name des WEISSEN RINGS sei der Türöffner gewesen für die Ansprache von bekannten Personen.
Der Erfolg bei den Promis kommt allerdings nicht von ungefähr. Koschig sieht sich als „Netzwerker“, der sich Leute sucht, die ähnlich ticken. Er sagt: „Ich habe ein gewisses Sendungsbewusstsein, andere zu motivieren.“ Günter Koschig ist auch das, was seine Frau Angelika „dickfellig“ nennt, manch einer könne das als aufdringlich empfinden, andere wiederum als sympathisch. Der 68-Jährige sagt: „Man kann sich auch einen Korb einfangen, aber dann macht man weiter.“ Man müsse resilient sein, wenn es mal nicht klappt.
Einer der langjährigsten GZK-Unterstützer ist der Schauspieler und ehemalige Mr. Universum Ralf Moeller. 1996 hat Koschig ihn das erste Mal getroffen, bei der Eröffnung des „Planet Hollywood“ in Berlin. Koschig hielt den Kontakt über die Jahre aufrecht, vor mehr als zehn Jahren überzeugte er den Star und dessen Management und traf Moeller im Hamburger Hotel „Atlantik“ zum GZK-Fotoshooting. „Er war total cool drauf“, erinnert sich der Außenstellenleiter beim Gespräch im August. Gerade am Vortag erst hat er mit dem in Los Angeles lebenden Moeller telefoniert. Die beiden Männer verbindet neben dem gesellschaftlichen Engagement indes auch ein weiteres Thema: Bodybuilding.
Beim Bodybuilding hat Günter Koschig seine Frau kennengelernt, in einem Anbau am Haus in einem Goslarer Stadtteil finden allerlei Fitnessgeräte, Sportutensilien und ein großflächiger Spiegel Platz. Wie Koschig bei all den Terminen und Verpflichtungen für den Verein und seine Kampagne noch Zeit fürs Training hier findet, ist ein kleines Rätsel. Fakt ist aber: Der Mann hält sich fit.
Koschig ist ein Macher, immer in Bewegung, ein Tausendsassa, er meint es ernst. Schnallt sich einen Gleitschirm um, um auf eine Baumpflanzaktion aufmerksam zu machen, zieht sich ein Super-Mario-Kostüm an und erklärt aus der Ukraine geflüchteten Kindern, wie man sich in einem Notfall am besten verhält. Sammelt Sachspenden für die Menschen in der Ukraine, bemüht sich um die Integration von Geflüchteten im Badmintonverein, dessen Vorsitzender er ist. Und nebenbei ist Koschig auch noch Stand-Up-Paddeling-Instructor, er bringt anderen den Trendsport bei.
Das alles nimmt Zeit in Anspruch. Zeit, die auch von der Familienzeit abgeht. Seine Frau und die beiden Töchter waren oft dabei, wenn Koschig im Namen des WEISSEN RINGS unterwegs war, kilometerweit durch ganz Deutschland fuhr für ein weiteres Fotoshooting, eine weitere Veranstaltung. Sie gehören dazu, sie tragen Koschigs Engagement mit, sie halten zusammen, sie sind auch aufrichtig miteinander. Beim Abendessen in dem Restaurant mit Frau, die ebenfalls ehrenamtliche Mitarbeiterin ist, und einer der zwei Töchter hört man in den Zwischentönen, dass es auch Entbehrungen sind, die dieses Ehrenamt und die Außenstellenleitung mit sich bringen, die nicht leichtfertig abzutun sind.
(Foto: WR)
Das Heim der Familie Koschig erscheint im Lichte der Umtriebigkeit Günter Koschigs als eine kleine Oase. Es gibt zwar ein Büro mit Schreibtischen für die Vereinsarbeit, an den Wänden Erinnerungsfotocollagen von Treffen mit Promis, Andenken, Auszeichnungen stehen neben allerlei Trophäen, in denen sich das Engagement für den WEISSEN RING und die Zivilcourage-Kampagne manifestiert. Auch im Rest des Hauses gibt es noch an der einen oder anderen Stelle eindeutige Spuren, wie den WEISSER-RING-Kugelschreiber neben der Spüle. Von der großen Sonnenterrasse aus fällt der Blick dann jedoch in einen hübsch angelegten, gepflegten Garten, eine Holzbrücke biegt sich über einen kleinen Teich. Man hätte es nicht unbedingt erwartet, dieses idyllische Refugium ist das von Günter Koschig, ein Ort der Ruhe. Der wird „leider zu selten genutzt“, aber wenn, dann kann Koschig hier runterkommen. Das „Problem“ aus seiner Sicht: „Dabei kommen mir immer wieder neue Ideen.“
Zurück im Trubel, wenn Koschig durch die Goslarer Innenstadt läuft, grüßt er nach links und rechts, mit der Oberbürgermeisterin ist er per Du, dann ist er selbst ein bisschen wie ein Promi. Er habe einen tollen Beruf gehabt und immer gute Impulse bekommen, das sei nicht selbstverständlich, er sieht sich in einer privilegierten Lage. „Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben und nicht in einer Einbahnstraße fahren“, sagt der 68-Jährige. Er fühlt sich sichtlich wohl, bei dem was und wie er es tut: „Ich habe das Gefühl, hier in meinem Wirkungsbereich etwas erreichen zu können.“ Er wisse, dass er hier, im Harz, nicht das Leid der Welt lindern könne. Aber kleine Schritte können etwas bewirken, davon ist Koschig überzeugt. Und er lebt vor, wie Zivilcourage im Kleinen funktioniert, wie das ganz praktisch aussehen kann, eigentlich für jeden umsetzbar, sollte man meinen: indem man sein Essen einfach mal kalt werden lässt, um für andere da zu sein.
Nina Lenhardt