Anton Müller aus Kaiserslautern

Im Wald seines Lebens

Die Liebe zum Wald ist Anton Müller wohl genetisch mitgegeben worden. Aber auch der Sinn für Gerechtigkeit, und so engagiert sich der frühere Forstwirt seit mehr als 30 Jahren für den WEISSEN RING in Kaiserslautern. Er schaffte es sogar, beides miteinander zu verbinden: den Wald und die Opferarbeit.

Foto: Christian J. Ahlers

In silva salus.
Im Wald liegt das Heil.

Dunkle Wolken mit weißen Spitzen kriechen über die Hügel, hier irgendwo am nördlichen Zipfel des Pfälzerwalds. „Es ist DAS größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands“, sagt Anton Müller, das ist ihm wichtig. Er sitzt auf dem Fahrersitz seines silbernen Skoda und manövriert den Kombi durch steile Kurven und enge Straßen. Müller ist an diesem nasskühlen Maitag auf dem Weg zu einem für ihn besonderen Ort.

„Ich komme aus einer uralten bayerisch-pfälzischen Forstfamilie, ich bin die zehnte Generation, deswegen ist die Liebe zum Wald wohl schon genetisch verankert“, sagt Müller, „die wird mir bleiben bis zum Lebensende.“ Es gebe da diesen Spruch aus dem Japanischen, aber von dem halte er eigentlich nicht so viel: im Wald baden. „Für mich bedeutet der Wald: Wenn ich mich hier aufhalte, geht es mir gut.“ Dass es tatsächlich esoterisch angehauchte Gruppenseminare zum Waldbaden gibt, Bäume umarmen inklusive, naja, davon sei er kein Fan. Er findet, jeder solle den Aufenthalt ganz individuell wahrnehmen, egal ob beim Joggen, Fahrradfahren oder Wandern. Egal wie, „alle sind durch den Aufenthalt im Wald erholt an Leib und Seele“, glaubt Müller, der hier jahrzehntelang als Forstamtsleiter für acht Förstereien verantwortlich war.

Seit 2011 ist er zwar in Ruhestand, doch der Wald lässt ihn nicht los.

Er hat zum Beispiel einen Lieblingsbaum, eine Eiche, um die 400 Jahre alt muss sie sein. Dort geht er zu jeder Jahreszeit hin und hat so „schon viele Probleme gut gelöst“, wie er sagt. Manchmal dachte er unter der mächtigen Baumkrone auch über die Menschen nach, die er in seinem Ehrenamt als Opferhelfer beim WEISSEN RING durch schwere Zeiten lotste.

Denn nicht nur die Liebe zum Wald sei wohl genetisch veranlagt, sagt Müller, auch sein Gerechtigkeitssinn sei ihm mitgegeben worden. Schon in der Schulzeit spürte er Wut in sich hochkriechen, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. 1978 – der WEISSE RING bestand erst zwei Jahre – wurde er Mitglied im Verein, „die Generation Eduard Zimmermann eben“, sagt Müller. Er bezieht sich auf den TV-Journalisten Zimmermann, Moderator der Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ und Initiator des WEISSEN RINGS. Zunächst war Müller passiver Unterstützer des Vereins, Familie und Job ließen ihm keine Zeit für mehr. Dennoch hatte er auf dem Anmeldebogen schon angekreuzt, er wolle sich später aktiv beteiligen.

Ende der 80er-Jahre meldete sich die Bundesgeschäftsstelle in Mainz bei ihm: In Kaiserslautern gebe es nur einen Mitarbeiter, im Landkreis gar keinen, und ob sein Angebot noch stehe? Es stand. „Wir waren damals ein weißer Fleck auf der Landkarte“, erinnert sich Müller. 1994 übernahm er die Außenstelle im Landkreis, fünf Jahre später kam die Stadt dazu, als beide Standorte zusammengelegt wurden.

„Hier“, sagt Müller und zeigt rechts aus dem Autofenster, an dem ein dreistöckiger Bau vorbeihuscht, der ein wenig so aussieht wie die Après-Ski-Hotels in den Tiroler Alpen. „Das ist der Barbarossahof, da trifft sich unsere Außenstelle immer zur Monatsbesprechung.“

Müller warb neue Mitstreiter und baute ein Netzwerk auf: Politik, Wirtschaft, Justiz und andere Hilfsorganisationen – alle sollten wissen, was der WEISSE RING macht. Eine Arbeit, von der der Verein bis heute profitiert. Es ist noch nicht allzu lange her, da bekam Müller ein Schreiben von der Bundesgeschäftsstelle: Dem Verein seien aus einem Wirtschaftsstrafprozess 250.000 Euro zugesprochen worden. „Ich dachte zuerst, das sei ein Druckfehler, und habe in Mainz angerufen“, sagt Müller und lacht dabei immer noch etwas ungläubig. Doch die Zahl stimmte, und das liegt an einer Besonderheit: Die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern ist die Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen, zuständig für die Landgerichtsbezirke Bad Kreuznach, Mainz und Trier. Immer wieder leisten straffällig gewordene Unternehmen Zahlungen, um gerichtliche Verfahren zu vermeiden, oder werden zu Geldbußen verurteilt. Viele dieser Beträge gehen an gemeinnützige Organisationen. In der Regel liegen die Summen jedoch im unteren fünfstelligen Bereich, wenn überhaupt, und werden oft in Raten abgestottert. „Hier war das ganze Geld nach drei Tagen auf dem Konto“, erinnert sich Müller.

Müller ist an seinem Ziel angekommen, den Wagen hat er am Rand eines Waldweges geparkt. Er geht tiefer in den Forst, es knarzt und knackt bei jedem Schritt.

Es war 2016 – der WEISSE RING feierte in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag –, da schrieb Müller wie in jeder Weihnachtszeit den Jahresbericht für seine Außenstelle und stellte etwas Bemerkenswertes fest: Seit Gründung der Außenstelle haben die Ehrenamtlichen in Kaiserslautern mehr als 1.000 Menschen geholfen.

Tausend Opfer, das sind tausend Schicksale.

„Da muss man was machen“, sagte sich Müller. Er erinnerte sich an seinen Lieblingsbaum im Wald – und an eine Parallele: „Bäume zeichnen sich aus durch Kraft, Langlebigkeit und Geduld. Viele dieser Eigenschaften benötigen auch Opfer, die infolge der Taten oft entwurzelt sind und viel Zeit benötigen“, sagt der 78-Jährige. Was lag da also näher, als für jedes der tausend Opfer einen Baum zu setzen?

So entstand der „Weg und Wald der Hoffnung“. Das Prinzip ist einfach: Forstarbeiter pflanzen Birken, Linden, Kastanien und Eichen in vier Waldgebieten. Bestehende Flächen werden auf diese Weise aufgeforstet, Lücken gefüllt und kranke Bäume ersetzt. Finanziert wird das Projekt, an dem auch das Forstamt Kaiserslautern beteiligt ist, durch Spenden: Für je 100 Euro wird ein Baum gepflanzt – ein Teil des Geldes fließt direkt in die Opferhilfe des WEISSEN RINGS, der andere Teil wird für die Pflanzung und Pflege des Baumes und zum Walderhalt in Deutschland verwendet.

Müller steht vor einer hölzernen Spendentafel am Wegesrand. Der Ort ist bewusst gewählt: Der Waldweg ist beliebt und führt zur alten Bergruine Beilstein, zahlreiche Menschen kommen hier täglich vorbei. Dutzende schwarze Plaketten mit Namen in weißer Schrift sind am Holz angebracht, es sind die Namen der bisherigen Spender, darunter ein Polizeipräsidium, ein Förderverein und zahlreiche Privatmenschen. „Einige von denen haben schon für vier oder fünf Bäume gespendet“, sagt Müller. Auch die Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Rheinland-Pfalz, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, ist auf einer Plakette verewigt. Um die 500 Bäume seien bisher gepflanzt worden, erklärt Müller.

Als 2018 der 250. Baum gepflanzt wurde, kamen viele Politiker, Vorstandsmitglieder und die Medien – das Fernsehen und die lokale Zeitung berichteten groß. Mittlerweile ist es um das Projekt etwas ruhiger geworden. Um sein Werk in Erinnerung zu halten, hat Müller mit einem befreundeten Fotografen einen Kalender mit Aufnahmen des Waldes erstellt, der als Werbemittel an Unterstützer verschenkt wird.

Dass Müllers Engagement keineswegs vergessen ist, zeigte sich gerade erst wieder im April, als er für sein 30-jähriges Wirken als Opferhelfer bei der Landestagung in Mainz ausgezeichnet wurde. In ihrer Laudatio bezeichnete die Landesvorsitzende Bätzing-Lichtenthäler sein Lebenswerk als „einzigartig“, Müller selbst nannte sie eine „Institution des Vereins“.

Es ist nicht seine einzige Auszeichnung: 2018 erhielt Müller die Verdienstmedaille des Landes, doch der Diplom Forstwirt möchte das als Wertschätzung für sein ganzes Team in der Außenstelle verstehen. Opferarbeit sei ja schließlich „keine One-Man-Show“, sagt er.

Müller setzt sich wieder in den silbernen Skoda, er möchte noch andere Projekte zeigen, die er in der Region auf den Weg gebracht hat:

  • eine Hochzeitsallee, in der frisch Vermählte einen Baum pflanzen können. „Problematisch wird es dann, wenn die Paare sich scheiden lassen“, sagt der Forstwirt und lacht;
  • einen „Tisch der Gemeinschaft“ abseits des Waldes, zwölf Meter lang, aus einem einzigen Douglasien-Stamm geschnitzt. Bis zu 100 Menschen können daran während ihrer Wanderungen rasten.

Während der Fahrt blickt Müller zurück. Forstamtsleiter, das sei ein Beruf mit sehr viel Bürokratie gewesen: Für acht Förstereien war er zuständig, sorgte für die Einhaltung von Gesetzen, wirkte an Nutzungsplänen mit, schrieb Stellungnahmen. Aber es sei auch ein sehr vielfältiger Job gewesen, „wir haben uns selbst immer scherzhaft Universaldilettanten genannt“, sagt er und lacht. Die Flexibilität kam ihm als Opferhelfer oft zugute. Im März 2023 gab er zwar nach 29 Jahren das Amt des Außenstellenleiters ab und zog sich aus dem operativen Geschäft zurück, ganz loslassen kann und will er aber nicht: Zu den monatlichen Treffen der Außenstelle geht er weiterhin und gibt seine Erfahrung weiter. In mehr als 30 Jahren als Opferhelfer hat er schließlich viel erlebt. „Ohne Empathie geht es nicht, aber das ist ja die Kunst: sich nicht zu sehr in die Fälle hineinziehen zu lassen, Distanz bewahren“, sagt Müller. „Sonst ist man verloren.“

Ihm sei das all die Jahre eigentlich gut gelungen. Nur ein Fall, der lässt ihn bis heute nicht los.

In seinem Heimatort hatte ein Mann seine drei Kinder erst betäubt und dann umgebracht, der ganze Ort stand unter Schock. Auch Müller, der selbst zwei Töchter hat. Nach mehreren Monaten bat die Mutter ihn um seelischen Beistand. „Sie zeigte mir Bilder der Kinder, das war ganz schlimm.“ Aber nach einiger Zeit habe sie wieder zurück ins Leben gefunden, sagt Müller. Er klingt erleichtert.

Müller parkt sein Auto vor einem Café in Enkenbach. Er möchte sich kurz aufwärmen.

Ob er die Tausend noch schafft bei den Bäumen im „Weg und Wald der Hoffnung“? „Naja“, sagt Müller, „es ist noch ein weiter Weg. Aber sagen wir mal so: Ich werde nicht aufhören.“

Er steigt ins Auto und fährt zurück in den Wald. In silva salus.

Christian J. Ahlers (Fotos und Text)