Das Camp
Auf einem Platz vor der Ludwig-Maximilian-Universität in München stehen Zelte und Pavillons in der Sonne, Menschen sitzen auf Teppichen und diskutieren, um sie herum sind Transparente und Plakate aufgestellt mit Forderungen: „Befreit Palästina“, „Beendet die israelische Apartheid“, „Stoppt den Völkermord“. Im Wind zappeln schwarzweißgrünrot die Palästinaflaggen.
Der Platz vor der Universität heißt Geschwister-Scholl-Platz. Benannt wurde er nach Sophie und Hans Scholl, den beiden Münchner Studenten, die hier mit der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen den Nationalsozialismus protestierten und dafür 1943 hingerichtet wurden.
Bis Kriegsende 1945 töteten die Mörder der Geschwister Scholl, die Nazis, etliche Millionen Menschen, darunter allein sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Jetzt steht auf einem Platz, der an die NS-Gräueltaten erinnern soll, ein Camp, mit dem gegen Israel protestiert wird, den 1948 gegründeten Nationalstaat des jüdischen Volkes.
Im Landeskriminalamt
Im Bayerischen Landeskriminalamt (LKA), eine halbe U-Bahn-Stunde von dem geschichtsträchtigen Platz entfernt, sagt Michael Weinzierl mit Blick auf das Protestcamp: „Mir macht das große Sorgen. Das wirkt brutal in die jüdische Gemeinschaft hinein.“ Weinzierl, 47 Jahre alt, Kriminaloberrat, ist der erste „Beauftragte der Bayerischen Polizei gegen Hasskriminalität, insbesondere Antisemitismus“, sein Amt gibt es nun seit eineinhalb Jahren. Er muss noch immer viel erklären, deshalb hat er eine Präsentation vorbereitet. Er eilt mit seinen Besuchern durchs verbaute LKA, erste Treppe rauf, Flur rechts, zweite Treppe rauf, Flur links, bis sie schließlich in einem ruhigen Raum vor einer Leinwand sitzen. Auf der Tür neben der Leinwand steht „Waffenmuseum“, darunter die Warnung „Achtung – alarmgesichert“.
Weinzierl ist für Hasskriminalität zuständig, also steht auf seiner Präsentation ganz vorn die Frage: Was ist Hasskriminalität, aus polizeilicher Sicht? „Hasskriminalität ist alles und nichts“, beantwortet Weinzierl die Frage.
Alles und nichts ist Hasskriminalität, weil sie aus polizeilicher Sicht zunächst eine Straftat ist wie Beleidigung, Bedrohung, Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen, Körperverletzung. Zur Hasskriminalität wird diese Straftat, wenn der Täter sie aufgrund von Vorurteilen gegenüber seinem Opfer begeht – zum Beispiel aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung. Die Polizei nennt solche Taten im Behördenkürzeldeutsch auch „PMK“, politisch motivierte Kriminalität.
Neben dem Motiv des Täters spielt aber noch etwas eine gewichtige Rolle bei der Hasskriminalität: die Sicht der Betroffenen.
Ein Beispiel: Wenn jemand Farbe an eine Haustür schmiert, könnte es sich um eine Sachbeschädigung handeln, laut Paragraf 303 Strafgesetzbuch eine Straftat. Wenn jemand mit Farbe einen Davidstern an eine Haustür schmiert, in dem Juden leben, dann könnte das aber auch Hasskriminalität sein und ein Verstoß gegen Paragraf 130, Volksverhetzung. Jüdische Menschen können sich in ihrer Würde verletzt fühlen, sie können sich verleumdet und verächtlich gemacht fühlen, sie können sich bedroht fühlen.
„Wir müssen diesen Perspektivwechsel vornehmen“, sagt Michael Weinzierl: „Wie geht es diesen marginalisierten Gruppen, die nicht mitten in der Gesellschaft stehen?“
Damit ist er wieder bei dem Camp am Geschwister-Scholl-Platz und bei den Gefühlen der jüdischen Gemeinschaft. Vordergründig handelt es sich um Protest, um eine politische Demonstration, um freie Meinungsäußerung, jedenfalls solange keine verbotenen Kennzeichen zu sehen und Parolen zu hören sind. Aber Jüdinnen und Juden sehen keinen Protest, sondern eine Bedrohung, sie sagen dem Beauftragten gegen Hasskriminalität: „Wir fühlen uns nicht mehr sicher!“
Die Betroffenen
Wie sehr unterscheiden sich die Erfahrungen, die marginalisierte Gruppen machen, von denen, die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft machen? Was erlebt ein junger Jude in Deutschland anders als jemand wie ich, der Autor dieses Textes: Mitte 50, Mann, weiß, Mittelschichtkind, christlich sozialisiert?
Ein Videoanruf bei Michael Movchin, er ist seit sieben Jahren Vorsitzender des Verbands jüdischer Studenten in Bayern. Movchin, 26 Jahre alt, kein Student, sondern IT-Unternehmer, lächelt nachsichtig bei der Frage nach seinen Erfahrungen und sagt: „Ich habe alles erlebt.“ Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken im Internet. Morddrohungen per E-Mail und per Briefpost. Abgesagte Veranstaltungen, weil das Sicherheitskonzept nicht standhielt. Journalisten, die ihn nach Podiumsdiskussionen zum Auto begleiten mussten, weil wütende Zuhörer ihn nicht gehen lassen wollten. „Mit mir macht das nichts mehr“, sagt er.
Movchin sagt, wenn sein Verband eine Veranstaltung ankündige, sei die häufigste Nachfrage von Vereinsmitgliedern nicht die nach Ort, Uhrzeit oder Verkehrsanbindung. Sondern: Wie steht es um die Sicherheit?
Wenn er sich in München mit jüdischen Freunden verabrede, gehe es immer zuerst um die Frage: Wo gehen wir hin, wo ist es sicher?
Halsketten mit Davidstern oder gar eine Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung männlicher Juden, trage kaum noch ein Vereinsmitglied sichtbar in der Öffentlichkeit.
Synagogen seien, anders als christliche Kirchen, keine offenen Gotteshäuser in Deutschland. Sie hätten verschlossene Türen und Metalldetektoren, seien von Zäunen umgeben und oftmals bewacht.
„Wir leben in einer Zeit“, sagt Movchin, „in der die jüdische Gemeinde jeden Tag Warnungen ausspricht, in welche Straßen oder zu welchen Veranstaltungen man nicht gehen sollte. Stellen Sie sich vor, eine christliche Gemeinde würde ihren Mitgliedern sagen: Geht nicht hierhin, geht nicht dorthin!“
Was löst ein pro-palästinensisches Camp am Geschwister-Scholl-Platz in Menschen aus, die so etwas täglich hören?
Erst heute wieder, berichtet Movchin, hätten ihn 15 Menschen angerufen, weil in dem Camp für eine Veranstaltung mit einem Motiv der „Weißen Rose“ geworben worden sei. „Das triggert“, sagt Movchin, „auf diesem geschichtsträchtigen Platz.“ Er berichtet von Angst, von Panik sogar. Wenn sein Verein zu Gegenveranstaltungen einlade, klingle wieder das Telefon, Studierende fragten ihn: Was passiert mir, wenn meine Kommilitonen mein Gesicht sehen? Wenn ich sie in der Stadt treffe? Wenn jemand von ihnen zu mir in die U-Bahn steigt?
Movchin sagt: „Für die Mitglieder unseres Vereins ist das schwer auszuhalten.“
Die Zahlen
Wenn Hasskriminalität alles und nichts ist, ist sie natürlich schwer zu fassen und zu erfassen. Weinzierl listet in seiner Präsentation marginalisierte Gruppen auf, die häufig von Hasskriminalität betroffen sind: Jüdinnen und Juden. Sinti und Roma. Schwarze Menschen. Flüchtlinge. Menschen mit Behinderung. Muslimas und Muslime. Menschen aus der LGBTQ+-Community: homosexuelle Menschen, trans Menschen. Menschen ohne Obdach. Aber auch Frauen. Sie alle erfahren Vorurteilsgewalt, digitale Gewalt, Hassrede, zusammengefasst: PMK, Hasskriminalität.
2022 hat die Polizei in Bayern 1186 Fälle von Hasskriminalität registriert. 2023 waren es 1867. Davon waren 589 Fälle antisemitisch motiviert, 210 allein nach dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel. „Die Zahlen und der Anstieg sind besorgniserregend“, sagt Weinzierl.
Und doch weiß er, dass die Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Hasskriminalität abbilden. Betroffene zeigten Straftaten nicht an, weil sie sich schämen, weil sie Angst vor Zurückweisung haben und vor Unverständnis, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. „80 bis 90 Prozent der LGBTQ+-feindlichen Straftaten werden nicht angezeigt“, sagt Weinzierl. Bis 1994 war Homosexualität ein Straftatbestand nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch. Betroffene, die heute 50, 60, 70 Jahre alt sind, erinnern sich daran. Ebenso wie ältere Polizisten.
Michael Weinzierl hat David Beck ins LKA eingeladen. Beck, 36 Jahre alt, Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft München, ist seit Februar 2024 der „Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz“. Er ist ein Mann mit munterem Witz, der einem zunächst seinen gereckten Mittelfinger zeigt mit den Worten, „das ist nicht persönlich gemeint“: Der Finger ist verbunden und geschient, Beck hatte einen Unfall, Sehnenriss.
Beck sagt: „Wir brauchen die Anzeige, wir brauchen aber auch den Paragrafen.“
Auch dazu ein Beispiel: Wenn Anhänger der Terrororganisation Hamas nach dem 7. Oktober 2023 Plakate aufhängten mit der Parole „from the river to the sea“ („vom Fluss bis zum Meer“, Anspielung auf die Grenzen Israels mit dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, was von Antisemiten als Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel verwendet wird), dann konnten Polizei und Justiz zunächst oft nur wegen wilden Plakatierens aktiv werden. Im November 2023 verbot das Bundesinnenministerium die Hamas und auch die Parole „from the river to the sea“ als deren Kennzeichen. „Das stützt unsere Argumentation, dass das Verbreiten und öffentliches Verwenden dieser Parole nach Paragraf 86a StGB strafbar ist“, sagt Beck.
Um die notwendigen Strafanzeigen zu bekommen, seien „niedrigschwellige Anzeigemöglichkeiten“ wichtig, so Beck. Die gebe es inzwischen, über Internetseiten wie www.bayern-gegen-hass.de oder direkt bei www.meldestelle-respect.de.
Um die Betroffenen wiederum zu den Meldeseiten zu bekommen, braucht es erstens Aufklärung und Netzwerkarbeit. Deshalb besuchen Michael Weinzierl und David Beck Veranstaltungen und halten ihre Präsentationen, deshalb wirkt Weinzierl in die 238 bayerischen Polizeiinspektionen hinein, wo es jeweils mindestens einen Ansprechpartner für Hasskriminalität gibt, deshalb wirkt Beck in die 22 bayerischen Staatsanwaltschaften hinein, wo es jeweils mindestens einen Sonderdezernenten gibt.
Zweitens braucht es einen „proaktiven Beratungsansatz“, wie es bei der Polizei etwas sperrig heißt.
Der Modellversuch
Im Foyer des Polizeipräsidiums Mittelfranken in der Nürnberger Altstadt wartet bereits die Kriminaldirektorin Cora Miguletz, 53 Jahre alt, zuständig für den Staatsschutz und damit für die Hasskriminalität. Sie erprobt für Bayern den „proaktiven Beratungsansatz“.
Proaktiver Beratungsansatz, das geht so: Beim ersten Kontakt vermittelt die Polizei den Betroffenen direkt ein passendes Beratungsangebot. Dafür arbeitet das Polizeipräsidium Mittelfranken zurzeit mit drei Partnern zusammen: mit B.U.D., einer Anlaufstelle bei rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Bayern, mit Strong!, einer Beratungsstelle für Taten gegen die sexuelle Orientierung oder geschlechtsbezogene Diversität, und, falls die beiden erstgenannten Angebote nicht passen, mit dem WEISSEN RING, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.
Das klingt einfacher, als es zunächst war. Cora Miguletz erinnert sich an Misstrauen bei den ersten Netzwerktreffen und Fortbildungen, an einen „schlechten Ruf der Polizei, den sie so nicht verdient hatte“.
Mittlerweile laufen die Beratungen. In den ersten zehn Monaten des Modellprojekts hat die Polizei 122 Fälle registriert, die für eine Beratung ungeeignet waren. Warum ungeeignet? „Weil es zum Beispiel kein Opfer gab, etwa bei einem Hassgraffito auf einer Schulhofmauer. Oder weil das Opfer nicht in Mittelfranken wohnte“, sagt Miguletz. 66 Fälle waren geeignet für ein Beratungsangebot. „16 Betroffene haben es angenommen, die meisten Fälle gingen an B.U.D.“, so Miguletz. „Schwierig ist es im Bereich der LSBTIQ*- Szene. Da gab es 22 potenziell passende Fälle, nur einmal wurde das Beratungsangebot angenommen.“ Die Vorbehalte von Betroffenen gegenüber der Polizei seien nach wie vor hoch.
Proaktiver Beratungsansatz, das heißt auch: In Mittelfranken gibt es 28 Polizeiinspektionen, in jeder Dienststelle muss es einen Beamten geben, der die Kolleginnen und Kollegen für das Thema Hasskriminalität sensibilisiert. Es gibt fünf Kriminalinspektionen, die sich zurzeit die Fälle noch einmal anschauen: Wurde die Hasstat richtig eingeschätzt? Wurde eine Hasstat nicht erkannt?
Besonders wichtig ist für Cora Miguletz aber der Streifenpolizist auf der Straße: „Der muss aktiv werden, der muss den Betroffenen die Scheu nehmen. Nicht jeder sieht die Polizei als Freund Helfer – für die Opfer sind wir das aber zu 100 Prozent.“
Die Zukunft
In München sagt Michael Weinzierl, der Beauftragte der Polizei gegen Hass: „Hass und Hetze ist ganz, ganz viel. Ob es im digitalen Raum auftritt oder im analogen, das ist für mich kein Unterschied.“ Er verweist auf die guten Aufklärungsquoten: knapp 70 Prozent bei politisch motivierter Kriminalität allgemein, bei politisch motivierter Gewaltkriminalität sogar fast 80 Prozent.
David Beck, der Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz, sagt: „Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“
Während ich diesen Text schreibe, blinkt eine Eilmeldung auf meinem Monitor auf: „Schüsse am israelischen Konsulat in München“. Mutmaßlicher Täter: ein österreichischer Islamist, sein mutmaßliches Motiv: Antisemitismus. Medienberichten zufolge soll er sich im sozialen Netzwerk TikTok radikalisiert haben.
Karsten Krogmann