Ihr vierjähriger Enkel hat Shatha Yassin-Salomo schon ein paarmal gefragt: „Oma, wie sehen die Bösis aus?“ Dass Oma und Uroma Menschen helfen, die „Bösis“ begegnet sind, denen also etwas Schlimmes passiert ist, so viel hat auch er schon verstanden. Die Arbeit beim WEISSEN RING machen die beiden immerhin schon länger als er auf der Welt ist.
Eine Antwort darauf, wie Menschen aussehen, die anderen Böses wollen, haben Shatha Yassin-Salomo und ihre Mutter Elke Yassin-Radowsky aber auch nach vielen Jahren im Dienst für den WEISSEN RING nicht. „Man erkennt sie eben nicht“, sagt Shatha Yassin-Salomo.
Elke Yassin-Radowsky arbeitet schon seit fast 25 Jahren für den WEISSEN RING im Raum Erlangen. Seit 2008 leitet sie zudem die Außenstellen der Stadt Erlangen und des Kreises Erlangen-Höchstadt, später kam die Außenstelle im Landkreis Fürth hinzu. Die Außenstellen für die Städte Fürth und Nürnberg leitet Shatha Yassin-Salomo seit 2021, als Ehrenamtliche kam sie 2017 zum WEISSEN RING.
Das Ende ihres Berufslebens war für Elke Yassin-Radowsky der Anlass, ein Ehrenamt zu übernehmen, und für ihre Tochter, mehr Verantwortung zu schultern. Beide sind sich einig: In der Rente nur noch zu Hause sitzen oder in den Urlaub fahren, das kam für sie nicht infrage. „Ich wollte etwas Sinnvolles machen“, sagt Elke Yassin-Radowsky. „Etwas bewirken“, ergänzt Shatha Yassin-Salomo. Etwas, das sie auch weiterhin herausfordert.
„Ich war nicht berufen, aber es ist zu meiner Berufung geworden“, sagt Elke Yassin-Radowsky. Sie war direkt begeistert von der Arbeit des Opferhilfevereins. „Menschen, die am Ende sind, zu helfen, weiterzumachen.“ Es sei immer eine Herausforderung, eine schlimme Situation in etwas halbwegs Positives zu verwandeln. Ihre Begeisterung konnte sie schon weitertragen: Ihre Schwester ist ebenfalls seit zehn Jahren im Einsatz – und eben ihre Tochter. „Eines meiner Enkelkinder werde ich auch noch überzeugen – die sind aber im Moment noch zu eingebunden im Beruf“, sagt Elke Yassin-Radowsky mit Augenzwinkern.
Sie hat in ihrem Leben schon viel gesehen. Mit 18 zog es sie in die Welt hinaus. „Die Vorstellung, die Ehefrau eines Siemens-Diplom-Ingenieurs zu werden, war mir ein Graus“, sagt sie. Ehefrau eines Siemens-Diplom-Ingenieurs – das gilt im Raum Erlangen als Abziehbild für einen traditionellen, eher spießigen Lebensentwurf.
Stattdessen ging sie nach England zum Studieren, lernte dort ihren Mann kennen. Ihre Tochter kam in London zur Welt, später lebte die Familie im Irak, dem Heimatland ihres Mannes. Dass er nachher, als sie zurück nach Erlangen zogen, eine Stelle als Siemens-Diplom-Ingenieur annahm, konnte Elke Yassin-Radowsky nach den Jahren unterwegs mit vielen Eindrücken und Erlebnissen gut verkraften, erzählt sie und lächelt. Sie selbst hat lange Zeit in der Forschung an der Universität in Erlangen als medizinisch-technische Assistentin gearbeitet. Es beeinflusse einen, wenn man nicht nur zu Hause sitzt, sondern in der Welt herumkommt, findet Elke Yassin-Radowsky. Vor allem habe es Einfluss darauf, wie man auf Menschen zugeht.
Obwohl der Anlass für ihr Ehrenamt für Mutter und Tochter der gleiche war, ist die Arbeit in den Außenstellen doch unterschiedlich. Für Shatha Yassin-Salomo war zu Beginn ihres Einsatzes als Leiterin in Nürnberg und Fürth erst einmal Struktur schaffen angesagt. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nur etwa zehn Ehrenamtliche im Team, dafür noch zwei weitere Außenstellen angegliedert. Eine davon, den Landkreis Fürth, hat sie an ihre Mutter abgegeben, das Nürnberger Land hat eine neue, eigene Außenstelle bekommen. Shatha Yassin-Salomo hat zudem neue Ehrenamtliche für die Arbeit beim WEISSEN RING gewonnen und eingearbeitet – offenbar kann nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie Menschen für dieses Ehrenamt begeistern
Aber auch in der alltäglichen Arbeit der Außenstelle hat sie für Struktur und Organisation gesorgt. Die Dienstpläne in den Büros in Nürnberg und Fürth sind so gefüllt, dass immer jemand im Einsatz und erreichbar ist. Für die Fälle, die Shatha Yassin-Salomo am Telefon entgegennimmt, erstellt sie für jeden Tag eine ausführliche Übersicht mit dem, was ihre Mitarbeitenden im jeweiligen Termin erwartet: Um was für eine Straftat geht es? Was braucht die betroffene Person? Formulare schickt sie schon vorab an die Betroffenen, damit in der Beratung nicht zu viel Zeit für Schreibkram verloren geht.
„Dieses Strukturierte hat meine Tochter nicht von mir, das hat sie eher aus ihrem Berufsleben“, sagt Elke Yassin-Radowsky. Shatha Yassin-Salomo war Lehrerin für Latein und Französisch, hat aber auch Fortbildungen für Lehrkräfte gegeben und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schulreferat in Nürnberg gearbeitet. „Ich habe Bildung von allen Seiten kennengelernt.“
In ihrer Laufbahn war sie hoch engagiert, hat Leitungsaufgaben und Projekte an ihrer Schule übernommen. Sie ist eine, die anpackt und sich nicht zufriedengibt, bis es wirklich gut läuft. „Das ist meine Art. Wenn mich etwas interessiert, gehe ich über die Norm hinaus.“ Organisation und Koordination habe sie immer gemocht, vor allem, wenn sie zu einem guten Ergebnis führen. Eigenschaften, von denen sie auch in ihrem Ehrenamt profitiert.
In der Außenstelle von Elke Yassin-Radowsky hingegen wird mehr auf Zuruf gearbeitet. Die Leiterin nimmt Anrufe entgegen und gibt die Fälle dann an ihre acht Ehrenamtlichen weiter. Anders als in Nürnberg und Fürth gibt es in Erlangen, Erlangen Höchstadt und im Landkreis Fürth keine Büros – die Mitarbeitenden besuchen die Betroffenen dort, wo sie das Gespräch führen möchten. Das habe seine Vorteile, die Gespräche würden so oft als persönlicher und lockerer empfunden, sagt Elke Yassin-Radowsky. Man sei auch weniger an einen Stundenplan gebunden. In ihrer Außenstelle begleiten sie die Menschen oft von Anfang an: manchmal bevor sie Anzeige erstattet haben und bis zum Gerichtsprozess.
Dass beide so unterschiedlich arbeiten, liegt vor allem an der Größe der Außenstellen. „Erlangen ist statistisch die zweitfriedlichste Stadt in Bayern“, sagt Elke Yassin-Radowsky. In Nürnberg und Fürth sei da schon mehr los. Den 100 bis 150 Fällen, die sie und ihr Team bearbeiten, stehen mehr als 300 in den beiden Städten ihrer Tochter gegenüber.
Aber auch neben der Beratung fallen in Nürnberg und Fürth Aufgaben an. Zumindest, wenn man die Arbeit beim WEISSEN RING so versteht wie Shatha Yassin-Salomo. Sie hält in beiden Städten engen Kontakt zu verschiedenen Stellen und anderen Hilfsorganisationen – der Polizei und den Gleichstellungsbeauftragten etwa oder dem Verein Wildwasser, einer Fachberatungsstelle für Mädchen und Frauen gegen sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt. „Ich möchte, dass die wissen, wer ich bin“, sagt Shatha Yassin-Salomo. Auch ihre Mutter pflegt zu den relevanten Stellen in Erlangen einen guten Kontakt. Es ist wichtig, präsent zu sein, wissen beide. Mit einer guten Vernetzung sei eine engere Zusammenarbeit möglich und auch ein Weiterleiten von Betroffenen an zusätzliche Hilfsangebote, die für sie sinnvoll sein könnten.
Sie halten auch Vorträge zu den Themen, die für den WEISSEN RING wichtig sind, aktuell sind etwa Betrug im Internet und am Telefon oder Cybermobbing besonders relevant. „Das war auch etwas, das ich erst lernen musste“, sagt Elke Yassin-Radowsky, die mittlerweile wohl um die 100 Vorträge gehalten hat, „aber im Leben lernt man eben immer dazu.“
Und es gibt noch etwas, das sie mit der Zeit gelernt hat: eine gewisse Distanz zu wahren und die Leidensgeschichten der Opfer nicht zu nah an sich heranzulassen. „Es betrifft mich nicht mehr so wie früher.“ Auch wenn sie heute weniger selbst berät und begleitet, kenne sie die Fälle oft trotzdem, weil viele schon beim ersten Kontakt am Telefon ihre ganze Geschichte erzählen.
Immer wieder seien welche dabei, die sie erschüttern, doch sie wisse mittlerweile, wie sie sich abgrenzen könne. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Fall, bei dem eine Frau auf dem Nachhauseweg von einem Dorffest vergewaltigt wurde. Nach der Gerichtsverhandlung habe sie zu Elke Yassin-Radowsky gesagt, sie wolle sie nie wieder sehen. „Das hat mich zuerst schockiert“, erinnert sie sich. Hatte sich die Betroffene nicht gut betreut gefühlt? „Aber dann habe ich verstanden: Sie wollte einfach mit der Sache abschließen und sie hinter sich lassen.“
In jüngster Zeit hatte sie mit zwei Frauen zu tun, die in ihrer Kindheit von den Eltern und deren Bekannten missbraucht wurden. So etwas macht sie auch heute noch fassungslos. Menschen, denen so etwas passiert, können das oft ihr ganzes Leben lang nicht verarbeiten. Trotzdem: „Ich denke nicht, dass sich durch die Arbeit meine Weltsicht verändert hat. Ich war immer optimistisch“, sagt Elke Yassin-Radowsky.
Bei ihrer Tochter ist das anders. Sie sagt, sie sei vor sichtiger geworden: „Ich weiß einfach zu viel.“ Fälle von Kindesmissbrauch gehen auch ihr besonders nahe. Vor allem, wenn den Müttern vom Jugendamt oder vor Gericht nicht geglaubt wird. Dann versuche sie, die Betroffenen mit erfahrenen Anwältinnen und Anwälten zu vernetzen und immer wieder auch mit Frauen, die Ähnliches erlebt haben.
Die Arbeit habe auch ihr Menschenbild beeinflusst, auch wenn sie nicht alle über einen Kamm scheren mag. Sie vertraue heute nicht mehr blind. „Ich habe ein großes Gerechtigkeitsempfinden“, sagt Shatha Yassin-Salomo. Sie lese viel rund um Verfahren und Dinge, die bei Trennungen, Stalking und Missbrauch eine Rolle spielen, sehe sich Dokumentationen an, konsumiere alles an Informationen auf der Suche nach Lösungsansätzen. „Wenn ich in ein Thema einsteige, dann richtig.“
Ihr sei es wichtig, Statistiken mit Leben zu füllen. Auch deshalb, damit Betroffene sich öfter trauen, um Hilfe zu bitten oder ihre Peiniger anzuzeigen. Gerade bei Gewalt in der Familie sei viel Scham im Spiel, Opfer fühlen sich mit schuldig oder haben Angst, mit einer Anzeige die Familie zu zerstören. Dieses Thema lasse sie nicht los.
Wie lange Elke Yassin-Radowsky noch weitermachen kann, weiß sie noch nicht. Bald hat sie die 25 Jahre voll. Für ihr besonderes Engagement wurde sie 2022 vom bayerischen Ministerpräsidenten mit dem Ehrenabzeichen für besondere Verdienste im Ehrenamt ausgezeichnet. Sie hat sich gefreut und sieht die Auszeichnung doch ganz fränkisch-nüchtern und pragmatisch. Die Ehrennadel liegt heute in der Schublade.
Carolin Scholz