Ehrensache

Die Prozessbegleiter

Klaus-Peter Zajewski und Holger Kuhrt engagieren sich ehrenamtlich beim WEISSEN RING. Bei einem Treffen in Berlin wird rasch klar: Sie haben viel zu erzählen.

Foto: Christoph Soeder

Manchmal haben sie danach Fingernagel­abdrücke an ihren Händen. „Und Taschen­tücher und eine Flasche mit Wasser haben wir immer dabei“, sagen die beiden erfahrenen Herren, die an diesem Vormittag im Landesbüro des WEISSEN RINGS in Berlin sitzen. Früher war hier ein Möbelhaus drin, aber seit 13 Jahren sind die Räumlichkeiten in der Bartning­allee 24 im Hansaviertel die Berliner Zentrale der Hilfs­organisation. Das Amtsgericht Tiergarten ist nur 300 Meter vom Landesbüro entfernt. Dort sind Klaus­-Peter Zejewski und Holger Kuhrt öfter anzutreffen: als Begleitung für Opfer im Strafverfahren. Und dort halten sie manchmal die Hand des Opfers, die sich vor Anspannung an ihnen festkrallt.

Die beiden kennen sich seit über zehn Jahren durch den WEISSEN RING und sind mittlerweile „leicht befreundet“, wie sie scherzhaft sagen. Wie ernst das gemeint ist, lassen sie offen. Nach dem Termin wollen sie noch gemeinsam zum Italiener essen gehen. Doch erst einmal stehen in dem Besprechungsraum Kaffee, Wasser, Saft und Süßigkeiten bereit. Beide haben einen Hefter mit Unterlagen über ihre Gruppe „Begleitung im Strafverfahren“ mitgebracht.

Zu erzählen gibt es viel, denn Klaus­-Peter Zejewski ist seit 13 Jahren beim WEISSEN RING dabei, Holger Kuhrt seit 17 Jahren. Der Urberliner Zejewski ist außerdem stell­vertretender Außenstellenleiter Berlin Nord sowie der Koordinator der Gruppe Begleitung im Strafverfahren. Holger Kuhrt ist seit etwa fünf Jahren in der Gruppe, aber so genau weiß er das gar nicht, denn es sind schon so viele Jahre, die er beim Opferhilfeverein aktiv ist.

Dass Opfer von Straftaten eines besonderen Schutzes im Strafverfahren bedürfen, wusste Klaus­-Peter Zejewski schon vor seinem Ehrenamt. Als Polizeibeamter saß er oft im Gerichtssaal. Und beide wissen von den Sorgen und Unsicherheiten der Opfer bei einem Strafprozess. „Sie haben Angst vor der Begegnung mit dem Täter, sie waren vielleicht noch nie in einem Gerichtssaal und kennen die Abläufe nicht, oder sie haben Angst, in dieser schwierigen Situation allein zu sein“, sagen sie.

Deshalb bieten die derzeit zwölf Ehrenamtlichen der Berliner Gruppe, sechs Frauen und sechs Männer, den Opfern Hilfe bei der Prozessvorbereitung an. Wenn gewünscht, begleiten sie sie auch während des Prozesses. „Wir hören immer wieder, dass die Opfer dem Tag vor Gericht bestenfalls mit einem mulmigen Gefühl ent­gegensehen“, sagen sie. Die Mitarbeiter sehen sich als Vertrauenspersonen, die sich die Sorgen der Opferzeugen anhören und sie ihnen zu nehmen versuchen. Seit zehn Jahren gibt es beim WEISSEN RING das zusätzliche Angebot der Psychosozialen Prozessbegleitung. „Aber nicht in jedem Opferschutzfall ist die Beiordnung der Psychosozialen Prozessbegleitung möglich, und dann kann man unser Angebot nutzen“, sagt Holger Kuhrt.

Seit vielen Jahren für den WEISSEN RING aktiv: Holger Kuhrt (links) und Klaus-Peter Zejewski. Foto: Christoph Soeder

Der gebürtige Hamburger hat sein Leben lang mit Men­schen gearbeitet. Er war Inhaber und Geschäftsführer eines Headhunter­-Unternehmens, das für andere Unternehmen Führungskräfte rekrutierte. Seine Frau arbeitete in der Erwachsenenbildung in Berlin. „Wir hatten eine Pendel­ Ehe, und als ich mit dem Arbeiten aufgehört habe, bin ich zu ihr nach Berlin gezogen.“ Einen Monat nichts machen, das gönnte er sich. Dann war es seltsam, nicht mehr jeden Tag ins Büro zu gehen. Schnell fragte er sich, was er ab jetzt den ganzen Tag machen solle. Also bewarb er sich beim WEISSEN RING und saß zum ersten Mal beim Vor­stellungsgespräch auf der anderen Seite.

Zwölf Jahre arbeitet Holger Kuhrt nun schon ehrenamt­lich in der Opferbetreuung und ist zwischenzeitlich auch Außenstellenleiter. Eigentlich wollte er schon aufhören, denn während der Unterstützung von Betroffenen ging er durch „alle Höhen und Tiefen der menschlichen Seele“, sagt er. Dann jedoch erfuhr er von der Gruppe Begleitung im Strafverfahren und hatte Lust, noch einmal etwas Neues zu machen. Seit fünf Jahren ist der 80­-Jährige dort nun schon wieder dabei.

Es gibt viele Fälle, die beiden für immer im Gedächtnis bleiben werden. Bei Holger Kuhrt ist es zum Beispiel der Fall eines damals gerade 17-­jährigen Mädchens. Er wurde zu einer türkischen Familie in Moabit geschickt. „Sie hat ihr T­-Shirt hochgezogen, und da war ein genähter Schnitt vom Schambein bis fast unter den Hals“, erinnert er sich. Das Mädchen ist für ihr Leben lang gezeichnet, dachte sich Holger Kuhrt bei ihrem Anblick. Der Täter war ihr Freund, der nicht damit umgehen konnte, dass sie sich von ihm trennen wollte.

Für seine Opferzeugin war der Prozess besonders heraus­fordernd, aber auch für ihn selbst. „Sie wäre fast kolla­biert, und ich musste sie vor dem Täter und seiner Familie abschirmen“, erinnert er sich. Also greift Holger Kuhrt zu einer ungewöhnlichen Maßnahme, um sie sicher in den Gerichtssaal zu geleiten. Er leiht sich einen Rollstuhl aus der Sanitätsstation, legt ihr eine Wolldecke über den Kopf und schiebt sie in den Gerichtssaal.

Klaus-Peter Zejewski griff auch schon einmal spontan zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um eine Opferzeugin zu schützen. Foto: Christoph Soeder

Sehr oft kommt es auf Grundlage der Opferaussagen zur Verurteilung des Täters. Deshalb sind sie vor Gericht wichtige Zeugen. Doch für viele Opfer ist die Aussage vor Gericht eine Ausnahmesituation und Belastung. Umso wichtiger ist die Arbeit der Strafprozessbegleiter. Sie sollen professionell auftreten und kompetente Ansprechpartner für die Opfer vor, während und nach dem Strafprozess sein. „Lebenserfahrung, innere Stabilität und Empathie sollte man mitbringen“, sagt Holger Kuhrt. Aber genauso staunt er über das neueste Mitglied der Gruppe, das erst 20 Jahre alt ist und die Arbeit trotzdem schon gut meistert.

Die Akademie des WEISSEN RINGS bietet ein kostenloses Seminar für die Außenstellenleitungen und die anderen Ehrenamtlichen an. Darin wird ein Querschnitt an Inhalten vermittelt, mit denen sie konfrontiert werden können. Zum Beispiel rechtliche Aspekte im Schutz von Opfer­ zeugen, kommunikative Ansätze zur Vorbereitung auf die Rolle der Opfer im Strafverfahren, Grundelemente der Psychotraumatologie oder Übungen zur Vorbereitung auf den Strafprozess. Das Seminar ist gefragt und in diesem Jahr schon ausgebucht.

Klaus-­Peter Zejewski kramt einen Stoffbeutel hervor und legt ihn auf den Tisch. Darin liegen bunte Bauklötzchen aus Holz. „Manche der Seminarteilnehmer kommen sich etwas veräppelt vor, wenn sie damit arbeiten sollen“, sagt er und lacht. „Kennen Sie das Beziehungsbrett aus der Psychotherapie?“, wollen die beiden wissen. In der Familientherapie wird es angewendet, um Zusammen­ hänge, Strukturen und Prozesse zu visualisieren und diese zu verändern. In der Vorbereitung auf das Strafverfahren dienen die Klötzchen zur ersten Orientierung im Gerichts­saal: Wo sitzt der Richter, der Angeklagte und sein Ver­teidiger, wo der Staatsanwalt und natürlich, wo sitzt man als Opferzeuge oder Opferzeugin?

Pro Jahr kümmert sich die Gruppe um etwa 35 Opfer, die vor Gericht aussagen müssen und dabei professionelle Hilfe brauchen. Die Menschen kommen aus ganz Berlin zu ihnen. Meist geht es um Gewaltdelikte wie häusliche Gewalt, Körperverletzung oder sexuellen Missbrauch. Deshalb ist die Geschlechtermischung in der Gruppe auch hilfreich, denn manche Frauen wollen oder können nach den traumatisierenden Erlebnissen auch nur mit Frauen sprechen.

Als er vor 13 Jahren in Rente ging, meldete sich der heute 75-­jährige Zejewski beim WEISSEN RING. Während seiner beruflichen Tätigkeit als Polizeibeamter hatte er immer wieder Kontakt mit dem Verein. Diese Erfahrungen wollte er nutzen, um den Opfern zu helfen. Der Fall, von dem Klaus­-Peter Zejewski nun erzählt, ist aber kein klassischer mit einem Opferzeugen. Das Opfer konnte nicht mehr aus­ sagen, denn es wurde bei der Tat getötet.

Vor acht Jahren hat er eine junge Frau vor Gericht begleitet, die Zeugin dieses Mordes wurde. Sie kam nachts mit dem Auto nach Hause. Vor einem Lokal in Neukölln hatten sich einige Leute versammelt. Plötzlich zog ein Mann eine Waffe und erschoss vor ihren Augen einen anderen Mann. „Sie hat sich nicht getraut auszusteigen und blieb im Auto sitzen, bis die Polizei kam“, erinnert sich Klaus­-Peter Zejewski, „die Polizei hat sie dann verhört, denn sie war die einzige unabhängige Zeugin vor Ort.“

Sie hatte vor allem Angst vor dem Täter und seinem Umfeld und wollte ihm vor Gericht nicht begegnen. Bei diesem Fall war auch die Presse beim Gerichtstermin dabei. Die Zeugin wollte von beiden weit weg sein. Außerdem war die Vorbereitung auf die Verhandlung und vor allem auf die Befragung durch den Verteidiger wichtig. „Denn er hat sie natürlich zum Tatablauf, zur genauen Uhrzeit und Täterbeschreibung in die Mangel genommen“, so Zejewski.

Holger Kuhrt verbrachte einst mehrere Stunden mit einem Opfer in der Botschaft Kanadas. Foto: Christoph Soeder

Durch die Arbeit für den WEISSEN RING ist er eigentlich gar nicht im Ruhestand angekommen. „Das ist sehr befriedigend für mich, da ich immer noch voll am Leben teilnehme und dabei auch noch meine Hilfe einbringen kann“, sagt er. Als Ausgleich zu der manchmal auch belastenden Arbeit liest er täglich zwei Tageszeitungen. „Und wenn der Akku mal wieder leer sein sollte, fahre ich auf meine Lieblingsinsel Sylt.“ Auch seine Frau, mit der er zwei erwachsene Kinder hat und in einer Wohnung in Berlin lebt, ist als Fraktionsvorsitzende einer Partei und stellvertretende Gemeindevorsitzende politisch aktiv.

Wahrscheinlich könnten die beiden noch lange weitererzählen. Über die Jahre beim WEISSEN RING sind sie auf die unterschiedlichsten Menschen und Schicksale getroffen und haben viel erlebt. Einmal kam zu Klaus­-Peter Zejewski sogar eine bekannte Berliner Schauspielerin. Ihren Namen will er, obwohl das Jahre her ist, nicht verraten. Und Holger Kuhrt war einmal über Stunden mit einem Opfer in der Kanadischen Botschaft in Berlin eingesperrt. „Die Dame hatte keine Papiere dabei, und sie haben uns nicht rausgelassen“, erinnert er sich. Irgendwie haben sie es dann aber doch geschafft.

Trotz aller Opferrechtsbestrebungen sind Betroffene von Straftaten vor Gericht oft nur ein „Beweis­ mittel“. Menschen wie Klaus­-Peter Zejewski, Holger Kuhrt und die anderen ehrenamtlichen Mitarbeiter der Berliner Gruppe vom WEISSEN RING helfen ihnen dabei, entspannter zur Verhandlung gehen zu können. Denn sie wissen, sie sind nicht allein. Und dafür sind sie dankbar.

Beate Erler