Als der CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten auf der Terrasse seines Hauses in Kassel erschossen wurde, wurde diese Mordtat in vielen Kommentaren im Netz gefeiert. Es herrschte dort Jubel über den Tod des Politikers, gegen den zuvor wegen seines Engagements für Flüchtlinge schon übel gehetzt und gedroht worden war. Die ungeheuer gemeinen und bösartigen Sätze gegen den Politiker standen im Netz, tagelang, als handele es sich um Plakate, Zeugnisse und Urkunden der Meinungsfreiheit. Sie standen da, als gäbe es keine Löschvorschriften im Netzwerkdurchsetzungsgesetz, sie standen da, als wollten sie dessen Paragrafen verhöhnen und sich über seine Absichten lustig machen.
2017, als das Netzwerkdurchsetzungsgesetz erlassen wurde, hatten viele Kritikerinnen und Kritiker ein Overblocking befürchtet, ein Zuviel an Löscherei. Tatsächlich ist es zu einem Underblocking gekommen. Rechtsextremisten hausen nach wie vor im Netz, als gäbe es kein Gesetz oder als gälte dort keines. Die Bundesanwaltschaft sagt, es gebe keine Hinweise auf ein rechtsterroristisches Netzwerk, also auf die Beteiligung von bislang noch unbekannten Personen an der Ermordung von Walter Lübcke. Aber es gibt mehr als nur Hinweise, es gibt Beweise für ein Netzwerk der psychischen Beihilfe, das sich im Netz rekrutiert und fortpflanzt.
Verrohung, die fassungslos macht
Hetze, Verhetzung und Hass im Netz beginnen mit Beleidigung, Verleumdung, übler Nachrede. Zumal Politikerinnen und Politiker müssen es sich gefallen lassen, als „alte perverse Drecksau“, als „nutzloses Stück Dreck“ und als „Drecksfotze“ beschimpft zu werden. Sie sollen, im Interesse der Meinungsfreiheit, jedwede Hetze aushalten, sei das nun der Satz „man sollte dich köpfen“, sei es die Drohung, vergewaltigt oder ins Mähwerk eines Mähdreschers geworfen zu werden.
Auch Schmähkritik hat, angeblich, noch irgendeinen Bezug zu Sachauseinandersetzung und wird deshalb, angeblich, von der Meinungsfreiheit geschützt. Fassungslos steht man vor dieser Verrohung. Das Internet wird zur Kloake; und die Justiz macht die Schleuse auf, sie lässt zu, dass der Dreck schwimmt und schwemmt und stinkt.
Meinungsfreiheit? Nein, Schmähungen gehören nicht zur Meinungsfreiheit. Ja, das Wort „Volksverräter“, mit dem Extremisten demokratische Politikerinnen und Politiker beschimpfen, ist ein hetzendes und strafbares Wort. Nein, es stimmt nicht, dass gegen die Verrohung kein Kraut gewachsen sei. Die einschlägigen Paragrafen heißen: Beleidigung, üble Nachrede, Nötigung, Verunglimpfung des Staats, Volksverhetzung.
Es ist ungut, wenn die Polizei unterstellt, dass ja „eh nichts herauskommt“. Auch deshalb ist es zur Veralltäglichung der Unverschämtheiten gekommen, auch deshalb ist das Internet partiell eine braune Kloake geworden. Wenn Volksverhetzung Volkssport wird, darf der Staat nicht zuschauen und so tun, als könne man nichts machen, als sei das halt so etwas wie eine Gewitterfront, die schon wieder abziehen wird. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sollte, es muss die Entwicklung des Internets zur Pöbelhölle aufhalten und umkehren. Das Gesetz hat dies aber bisher nicht geschafft. Und auch der aktuelle Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes schafft das nicht.
Ein Gesetz mit Geburtsfehlern
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz leidet an zwei Geburtsfehlern. Erstens: Es hat die Rechtsdurchsetzung im Internet outgesourct, indem es sie an die Netzbetreiber übertragen hat. Ob Eintragungen gelöscht werden oder nicht, wird nicht von staatlichen Institutionen, sondern von Twitter, Facebook, Google und Co. in eigener Regie entschieden. Das ist ein Systembruch, das ist ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung. Der Staat hat seine Entscheidungsgewalt darüber, was Recht und Unrecht ist, an Twitter und Co. abgegeben. Das ist der Geburtsfehler Nummer eins.
Geburtsfehler Nummer zwei: Der Staat hat seine Strafgewalt nicht gesichert. Der Staat und seine Strafverfolgungsorgane kommen an die Hetzer im Internet viel zu oft nicht heran, weil das Netzwerkdurchsetzungsgesetz keine funktionierende Auskunftspflicht der Provider etabliert hat.
Twitter, Facebook und Co. müssen keine Auskünfte darüber geben, wer sich hinter Pseudonymen im Netz verbirgt; sie können die Bestandsdaten von Verdächtigen herausrücken, wenn sie das wollen; sie müssen es aber nicht – und sie tun es in der Regel auch nicht. Die „Deutsche Richterzeitung“ stellt daher bitter fest, dass die Strafverfolger „Bittsteller“ bleiben, solange das Gesetz keine klare und zwingend Auskunftspflicht zu den Bestandsdaten vorschreibt. Hetze und Gewalt im Netz explodieren sonst.
Die Höchststrafe bei Beleidigung soll mit dem „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ (der Bundespräsident hat es noch nicht unterschrieben und Nachbesserungen verlangt) von einem Jahr auf zwei Jahre verdoppelt werden. Das hilft aber gar nichts, wenn die Justiz Beleidigung oder Verhetzung gar nicht mehr als Beleidigung oder Verhetzung erkennt oder bewertet.
Da hilft auch ein immer schärferes Netzwerkdurchsetzungsgesetz nichts: Wenn die Justiz keine Maßstäbe mehr für die Strafbarkeit hat, dann sind alle Sanktionen, die in anderen Gesetzen an die Strafbarkeit anknüpfen, für die Katz. Die Rechtsprechung hat die Beleidigung, zumal die Beleidigung von „public figures“ im Internet, faktisch entkriminalisiert.
Aus Hetze wird brutale Gewalt
Wie aus Hetze brutale Gewalttaten werden, hat man in jüngster Zeit in Kassel, Hanau und Halle erleben können. Es ist dies auch eine historische Erfahrung. In der Weimarer Republik kämpfte Reichsfinanzminister Matthias Erzberger vergeblich gegen die Rufmordkampagne des Reaktionärs Karl Helfferich: „Fort mit Erzberger“. Noch während des Prozesses schoss ein Attentäter auf Erzberger und verletzte ihn schwer. 1921, vor hundert Jahren, wurde er dann ermordet.
Die Justizministerkonferenz sollte sodann umfassend darüber nachdenken, wie die Justiz künftig dem Internet und seinen Spezifika gerecht wird. Es gibt heute Spezialabteilungen an den Gerichten, bei denen man ohne besondere Fachkenntnisse in Spezialmaterien nicht auskommt: Mietgerichte, Familiengerichte, Betreuungsgerichte, an den Landgerichten gibt es Kammern für Handelssachen. Internet-Gerichte gibt es bisher nicht. Es sollte sie geben. Das braucht die Justiz. Und die Gesellschaft braucht eine Justiz, die internetfähig ist. Sie braucht eine Justiz, auch eine Strafjustiz, auf der Höhe der Zeit.
Wozu ist Strafe da? Sie ist dazu da, um den Bürgerinnen und Bürgern zu demonstrieren, dass die strafrechtlichen Verbote wirklich gelten. Bei der Beleidigung ist es Zeit für diese Demonstration.
Prof. Dr. Heribert Prantl war zwei Jahrzehnte lang Chef der Redaktionen Innenpolitik und Meinung der „Süddeutschen Zeitung“. Er war auch Mitglied der Chefredaktion. Heute ist er ständiger Autor und Kolumnist des Blattes. Soeben erscheint im Münchner Verlag C. H. Beck sein neues Buch: „Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne“.