Exklusives Interview zum Fall Edenkoben

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen: Am 11. September 2023 wurde ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg entführt und sexuell missbraucht. Die Polizei nahm später einen vor kurzem aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter fest. In Schul- WhatsApp-Gruppen war vor dem Mann gewarnt worden, der Rechtsstaat hatte sich zuvor hilflos gezeigt, unter anderem konnte der Mann das Tragen einer Fußfessel verweigern. Mit der Redaktion des WEISSEN RINGS spricht der Vater des entführten Kindes erstmals öffentlich über den Fall.

Foto: dpa

Ein Reihenhaus am Ende einer Sackgasse, dahinter Weinbau, so wie überall hier: kilometerweites Grün, bis irgendwann der noch grünere Wald beginnt. „Wein – Wald – Kultur“, mit diesem Slogan wirbt Edenkoben auch im Internet um Touristen.

Bundesweite Bekanntheit erlangte die 7.000-Einwohner-Stadt in der Südpfalz allerdings erst als Tatort eines Verbrechens. Im September 2023 entführte ein Mann ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg und missbrauchte es sexuell. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd befreite die Polizei das Kind aus dem Auto des Entführers und nahm den Fahrer fest, einen frisch aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter. Im ganzen Land berichteten Medien über den Fall, allen voran die „Bild“-Zeitung veröffentlichte Dutzende Texte über den „Kinderschänder von Edenkoben“ und warf Politik und Behörden „Totalversagen“ vor.

In dem Reihenhaus am Ende der Sackgasse sitzt Mathias am Esstisch, der Vater des Mädchens. Hinter Mathias hängen eingerahmt Porträtzeichnungen an der Wand, sie zeigen die Tochter und ihren älteren Bruder, auf Regalbrettern stapeln sich Spiele und Bücher. Vor einer anderen Wand steht ein altes Küchenbuffet, aus dem obersten Fach quellen Zeitungen, „das sind die gesammelten Artikel über den Fall“, sagt der Vater. Mathias, 44 Jahre alt, von Beruf Fachkrankenpfleger, spricht erstmals aus der Betroffenenperspektive über die Tat.

Mathias, im September 2023 wurde Ihre zehnjährige Tochter entführt, im April 2024 hat das Landgericht Landau einen mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. Wie geht es Ihrer Tochter heute, wie geht es Ihrer Familie, wie geht es Ihnen?

Ich würde sagen, uns geht es den Umständen entsprechend gut. Wir haben die Gerichtsverhandlung hinter uns, und wenn man das so sagen darf: Das Ergebnis war ein voller Erfolg für uns.

Das Gericht hat den Angeklagten zu zwölf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Hat Sie das Urteil überrascht?

Ja. Zwölf Jahre und Sicherungsverwahrung sind doch eher selten nach solchen Taten.

Sie hatten ein milderes Urteil für den Angeklagten erwartet?

Nach allem, was ich so mitbekomme vom deutschen Rechtssystem, hätte das Urteil auch anders ausfallen können. Von daher ist meine Erleichterung groß.

Die „Bild“-Zeitung übte wochenlang heftige Kritik an Politik und Behörden. Screenshot: „Bild“-Zeitung

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision beantragt.

Das ist sein gutes Recht. Für uns ist aber mit dem Prozessende in der ersten Instanz wieder viel Normalität eingekehrt.

Der Fall Ihrer Tochter hat ein großes Medienecho ausgelöst, nach der Tat war immer wieder der Satz zu lesen und zu hören, dass Ihre Tochter und Ihre ganze Familie jetzt womöglich für den Rest ihres Lebens mit den Folgen der Tat zu kämpfen hätten. Versuchen Sie, sich gegen solche Langzeitfolgen zu wappnen?

Es gibt eine ganze Menge, was man machen kann und auch machen sollte. Ich absolviere im Moment noch eine Traumatherapie, das tut mir persönlich unheimlich gut. Meine Tochter ist ebenfalls weiterhin in Therapie, das entwickelt sich auch sehr gut. Es gibt aber auch Menschen, denen sexualisierte Gewalt widerfährt und die ohne Therapie gut klarkommen. Der Satz „Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben“, den wir gerade in den ersten Tagen nach der Entführung so oft gehört haben, der ist nicht zwangsläufig richtig.

Empfinden Sie den Satz als stigmatisierend?

Ja, das hat etwas von Stigmatisierung. Ich möchte nicht kleinreden, was passiert ist. So etwas kann heftigste Konsequenzen haben für die Seele, für die Psyche. Aber ein Mensch verfügt auch über viele Ressourcen, mittel- bis langfristig mit so einer Erfahrung umgehen zu können und einem Schaden vorzubeugen.

Hilft Ihnen Ihre Berufserfahrung als Intensivpfleger, nicht nur als Betroffener, sondern auch mit einer gewissen professionellen Distanz auf das Geschehene zu blicken?

Ja, vermutlich ist das so.

Mathias blickt nicht nur als Vater und Intensivpfleger auf das Geschehene, sondern auch mit der forschergleichen Neugierde eines Mannes, der unbedingt verstehen will, was passiert ist. Er hat sich akribisch vorbereitet auf das Gespräch; vor ihm liegt ein prall gefüllter Aktenordner, daneben ein Zettel mit handschriftlichen Notizen.

Wie haben Sie den 11. September 2023 erlebt?

Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde bei uns Realität. Diese Stunden waren extrem traumatisch und sind auch der Hauptgrund, warum ich heute noch in Therapie bin. Aber ich erzähle einfach mal von Anfang an. Meine Frau ist ja auch Krankenschwester und hatte Frühschicht, ich hatte Spätschicht. Folglich habe ich mich morgens um die Kinder gekümmert. Unsere Tochter ist sehr selbstständig und hat sich eigenständig fertig gemacht. Bemerkenswerterweise war sie recht früh an diesem Morgen. Sie war bereits um 7:25 Uhr fertig und hat gemeint, sie gehe jetzt in die Schule. Da habe ich gesagt: „Dann bist du ja etwas früher als sonst, du kannst dir ja Zeit lassen.“ Sie verlässt also das Haus, den Schulweg geht sie schon seit vier Jahren. Um halb neun ruft dann meine Frau von der Arbeit an und sagt: „Unsere Tochter ist nicht in der Schule angekommen.“

Fast eine halbe Stunde lang schildert Mathias minutiös den Ablauf des 11. September. Seine Notizen braucht er dafür nicht einmal. Er erzählt, wie er ins Zimmer der Tochter ging, um zu schauen, ob sie vielleicht doch zurück ins Bett gegangen und wieder eingeschlafen ist. Wie er den Schulweg abfuhr, „ganz langsam und mit offenen Fenstern“. Wie er mit der Schulsekretärin die Klassenzimmer und die Sporthalle absuchte. Wie der Schulrektor und er ganz diskret die beste Freundin der Tochter befragten. Wie er sich selbst fragte, ob er gleich die Polizei verständigen soll oder ob er noch eine halbe Stunde warten soll. Wie er sich die Frage selbst beantwortete: Nein, du fährst sofort zur Polizei. Wie er vorher doch noch einmal nach Hause fuhr, um nachzuschauen, ob seine Tochter in der Zwischenzeit vielleicht zurückgekehrt ist.

Und dann bin ich zur Polizei: Guten Tag, meine zehnjährige Tochter ist vermisst. Da habe ich schon gemerkt, irgendwas passiert hier. Leute stehen auf, es entsteht eine merkwürdige Unruhe. Und ich denke noch so für mich: Toll, die nehmen das total ernst! Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass es Parallelmeldungen gab, dass die Polizei den aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter bereits auf dem Schirm hatte und dass es sogar eine Anruferin gab, die die Entführung beobachtet hatte.

Hatten Sie keine Angst zu diesem Zeitpunkt?

Ich fuhr dann zurück nach Hause, und auf dem Weg dorthin rief mich die Polizei an und sagte, ich müsse wiederkommen, die Kollegen aus Neustadt seien jetzt da. Da dachte ich: Das ist die Kripo. Und als ich so durch Edenkoben fuhr, drängte sich mir der Gedanke auf: Meine Tochter könnte tot sein! Angst griff nach mir, Angst und Ohnmacht. Das war für mich der schlimmste Moment. Der hat dann sogenannte Intrusionen bei mir ausgelöst: flashbackartige Bilder mit dem gleichen Gefühl, das ich in der Angstsituation hatte. Das haben zum Beispiel Soldaten, die aus Kriegsgebieten kommen. Das konnte ich später in der Traumatherapie aufarbeiten. Heute habe ich die Intrusionen nicht mehr.

Das Polizeipräsidium Rheinpfalz informierte in einer Pressekonferenz über den Stand der Ermittlungen. Foto: Andreas Arnold/dpa

Hatten Sie in dieser Situation der Ungewissheit Unterstützung?

Wir haben maximale Hilfe und Empathie erfahren in diesen dunklen Stunden. Die Polizei war wirklich super. Da herrschte ein extremer Stresspegel auf den Polizeiwachen. Und trotzdem war man immer bemüht, mit uns bestmöglich umzugehen.

Mathias rekapituliert weiter das Geschehen des 11. September 2023. Bis zu dem Zeitpunkt, als seine Frau und er bei der Polizei in Landau endlich ihre Tochter wiedersahen: eingehüllt in einen weißen Kunststoffanzug, wegen der Spurensicherung.

Wer hat Ihnen mitgeteilt, was Ihrer Tochter angetan wurde?

Letztlich hat es uns unsere Tochter selbst gesagt. Ich habe sie gefragt: Mensch, was ist dir denn passiert? Und dann erzählte sie: Da war ein Mann, der habe sie gewaltsam gepackt und in sein Auto gestoßen. Sie habe versucht, sich zur Wehr zu setzen, sie habe geschrien, aber es habe sie keiner gehört. Sie sagte, sie habe Angst gehabt und ihrem Entführer Fragen gestellt, um ein Gefühl von Kontrolle zu haben. Der Entführer habe sie beruhigt. Der Mann sei mit ihr an einen unbekannten Ort gefahren und habe sie gezwungen, ein Handtuch über ihrem Gesicht zu tragen.  Und dann hat sie das umschrieben mit „und dann passiert das, was bei so einer Entführung nun mal passiert“. Da war uns klar, sie umschreibt den sexuellen Missbrauch jetzt mit diesen Worten. Ich musste dann erst mal eine rauchen gehen. Als später die Zeugenvernehmung von unserer Tochter stattfinden sollte, haben wir ihr gesagt: Auch wenn es schwer ist, wäre es gut, wenn du das alles sehr konkret benennst. Sie hat dann laut Polizei eine super Zeugenaussage gemacht.

Waren Sie dabei?

Ja, am Anfang. Als es dann in Richtung Missbrauch ging, habe ich angeboten, dass wir als Eltern rausgehen. Dem hat sie direkt zugestimmt, damit sie freier reden kann. Sie hat dann auch wohl sehr detailliert geschildert, was passiert ist. Wobei das, was passiert ist, weniger das ist, was man sich jetzt vielleicht vorstellt.

„Hier in Edenkoben weiß jeder, dass wir die betroffene Familie sind.“

Mathias

An dieser Stelle stockt Mathias. Etwas umständlich versucht er zu erklären, dass Missbrauch nicht immer gleich Missbrauch ist. Er bemüht sich zu sagen, was geschehen ist, ohne aussprechen zu müssen, was geschehen ist. Was er eigentlich sagen möchte ist: was nicht geschehen ist.

Nach Straftaten wird zum Schutz der Betroffenen häufig darauf verzichtet, das Geschehene konkret zu benennen. Ganz besonders, wenn die Betroffenen Kinder oder Jugendliche sind.  In Ihrem Fall habe ich aber das Gefühl, dass Sie gern mehr sagen würden – ebenfalls zum Schutz der Betroffenen. Stimmt das?

Hier in Edenkoben weiß jeder, dass wir die betroffene Familie sind. Also alle in unserem sozialen Umfeld, jeder Lehrer, jeder Mitschüler. Viele gehen nach der Medienberichterstattung automatisch von den schlimmsten Horror-Szenarien aus. Ich habe das Gefühl, dass ich einer Stigmatisierung ein wenig entgegenwirken kann, wenn ich sage: Ich will nichts schönreden, das war ein sexueller Missbrauch, das ist eine schwere Straftat. Aber es war vielleicht auch nicht das, was ihr jetzt im Kopf habt.

Behörden, Hilfsorganisationen, oft auch Medien unternehmen sehr viel dafür, Betroffene zu schützen, indem sie möglichst wenige Informationen preisgeben. Denken Sie, dass sie damit manchmal das Gegenteil erreichen von dem, was sie erreichen wollen?

Das ist eine gute Frage. Ich habe es als positiv empfunden, dass man vor allem vor Gericht so konsequent versucht hat, die Intimsphäre unserer Tochter zu schützen. Trotzdem spürte ich auch das Bedürfnis, zum Schutz meiner Tochter zumindest so viele Informationen transparent zu machen, dass das Kopfkino bei den Leuten nicht schlimmer ausfällt als die Wirklichkeit.

Screenshot: „Bild“-Zeitung

Die Medien warfen Politik und Behörden nach der Tat schweres Versagen vor. 2020 empfahl ein Gutachter im Prozess gegen den Mann eine anschließende Sicherungsverwahrung, aber das Landgericht ordnete sie nicht an. Nach seiner Entlassung 2023 sollte er dann per Fußfessel überwacht werden, der Mann weigerte sich einfach. Das hat für viel Empörung gesorgt. Sie als Betroffene haben sich mit Kritik auffällig zurückgehalten – warum?

Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat. Es fällt uns schwer zu sagen: Die Polizei ist schuld, das Gericht ist schuld, die Führungsaufsichtsstelle ist schuld. Nehmen wir das Beispiel Führungsaufsicht: Da gab es ja extra Mitarbeiter, um auf den Mann aufzupassen. Aber die Führungsaufsicht war das völlig falsche Instrument, mit einem Straftäter dieses Kalibers umzugehen. Der hätte in Sicherheitsverwahrung gehört.

Als der Mann 2020 wegen Körperverletzung und Verstößen gegen Weisungen der Führungsaufsicht verurteilt wurde, waren die Einzelstrafen angeblich zu gering ausgefallen, um eine anschließende Sicherungsverwahrung anordnen zu können.

Das ist komplizierter, ich habe mich damit intensiv beschäftigt. Es ist mir nicht bekannt, dass ein Gericht in Deutschland wegen eines Verstoßes gegen die Führungsaufsicht Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Erst in diesem Jahr, nach unserem Fall, hat ein deutsches Gericht erstmalig einen Sexualstraftäter wegen Verstößen gegen die Führungsaufsichtsauflagen mit Sicherungsverwahrung belegt. Es war sogar dasselbe Gericht. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidung des Gerichts damals zu kritisieren.

Wenn es jemandem zusteht, dann doch wohl Ihnen als Betroffener dieser Entscheidung?

Die Frage ist doch: Wird der Job gemacht? Tut jeder, was er tun sollte? Nehmen wir die Führungsaufsicht: Das Gericht hatte eine wöchentliche Kontaktaufnahme mit der Person vorgesehen. Die Führungsaufsicht hat das sogar täglich gemacht. Die haben viel mehr getan, als sie eigentlich hätten machen müssen, weil sie wussten, wie gefährlich der Mann ist. Die Führungsaufsicht ist einfach das völlig falsche Instrument gewesen. Ich bin Fachkrankenpfleger auf einer Intensivstation, für mich klingt das so, als würde man einen kritisch kranken Intensivpatienten nicht auf die Intensivstation legen, sondern auf Normalstation. Und wenn der Patient dann abends tot im Bett liegt, dann wundert man sich. Natürlich bin ich der Meinung, dass da grundsätzlich etwas schiefläuft. Wie oft kommen Sexualstraftäter aus dem Gefängnis wieder frei und werden rückfällig? Es muss sich grundsätzlich etwas ändern. Es muss vielleicht härtere Strafen geben. Es muss öfter die Sicherheitsverwahrung verhängt werden. Es muss eine mit Zwang durchsetzbare Fußfessel-Überwachung möglich sein. Vielleicht passiert das jetzt ja.

Es wäre Ihr gutes Recht, wütend darüber zu sein, dass das alles damals nicht passiert ist, und die dafür verantwortlichen Stellen zu kritisieren.

Sie haben sicherlich schon mal den Begriff „Victim Blaming“ gehört?

Sie meinen damit eine Täter-Opfer-Umkehr oder auch Schuldverlagerung? Also den Versuch, die Verantwortung für eine Straftat nicht dem Täter, sondern dem Opfer zuzuschreiben?  

Man denkt auf einmal, man findet die Schuldigen überall. Als erstes ist es natürlich die Polizei. Dann ist es der böse Staat. Später war es die Schule, die hätte doch bessere Sicherheitskonzepte haben sollen. Und wir Eltern, ich hätte meine Tochter nicht allein zur Schule laufen lassen sollen! Das ist Victim Blaming, uns als Eltern wird die Schuld für das Verbrechen an unserer Tochter gegeben. Das kann einen ganz schön fertig machen.

Hat man Ihnen diesen Vorwurf gemacht?  

Das hat mir niemand persönlich gesagt, aber das kann man zum Beispiel bei Facebook lesen. „Also ich bin ja Helikoptermutter und stehe dazu. Ich hätte meine Tochter niemals allein …“ Schon ist der Vorwurf da. Unsere Tochter hat sich auch selbst die Schuld gegeben: „Ich hätte den Weg nicht nehmen sollen.“ Das ist doch ein Klassiker in der Psychologie! Ich sage ganz klar: An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand. Das habe ich auch als Nebenkläger vor Gericht gesagt.

Edenkoben ist eine Stadt in Rheinland-Pfalz. Foto: dpa

Die „Bild“-Zeitung zitierte ein Mitglied des Innenausschusses im rheinland-pfälzischen Landtag mit dem Satz: „Der Rechtsstaat ist hier an Grenzen gestoßen.“ Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Im Prozess habe ich mich an die Vorsitzende Richterin gewandt. Dabei habe ich diesen Satz zitiert und gesagt: „Bei vielen Menschen in der Bevölkerung entsteht tatsächlich der Eindruck, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers an seine Grenzen kommt. Dies soll heute anders sein. Sehr geehrte Frau Vorsitzende, hohes Gericht, bitte beweisen Sie uns das Gegenteil. Beweisen Sie uns, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers umzugehen weiß.“ Ich bat das Gericht, dafür zu sorgen, dass dieser Mann nie wieder die Möglichkeit bekommen wird, ein Kind zu entführen und zu missbrauchen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, Betroffene besser zu schützen?  

Ich habe das Gefühl, dass wir in Deutschland zu häufig nur die Scherben aufkehren, nachdem etwas zerbrochen ist. Es wird viel auf Prävention gesetzt; Kinder lernen, wie sie sich im Falle eines Falles zu verhalten haben. Es gibt Psychologen, die die Folgen eines Missbrauchs aufarbeiten und therapieren. Es gibt den WEISSEN RING und viele weitere Hilfsorganisationen. Doch im Endeffekt behandeln wir Symptome. Ich kann mir vorstellen, dass härtere Strafen ein Mittel gegen Sexualstraftäter sind. Häufiger verhängte Sicherungsverwahrungen. Fußfesselzwang. Weniger Datenschutz. Aber das müssen Fachleute beantworten, ich bin kein Fachmann. Dieser Fall ist in jeder Hinsicht besonders: Vor dem Mann wurde ja gewarnt, sogar unsere Tochter hatte vorher ein Foto von ihm auf ihrem Smartphone, weil das nach seiner Haftentlassung über Schul-WhatsApp-Gruppen geteilt worden war. Meine Frau und ich kannten die Nachricht leider nicht. Besonders war an dem Fall auch das hohe mediale Interesse. Das hat den Nachteil einer möglichen Stigmatisierung, aber auf der anderen Seite kann es auch ein Vorteil sein.

Das müssen Sie erklären.

Wir haben sehr viel Empathie erfahren, ganz viele Menschen haben extrem viel Rücksicht auf uns genommen. Der WEISSE RING war sofort da, noch am Entführungstag. Ein paar Tage später saß der Opferbeauftragte des Landes hier. Es sind Spendenaktionen gelaufen, was tatsächlich eine große Hilfe ist in dem Moment. Dann war da unser Arbeitgeber, der uns freigestellt und in jeder Hinsicht unterstützt hat. Freunde, Familie. Unser Anwalt, Matthias Bär aus Edenkoben, stand uns fachlich wie menschlich im menschlichen Sinne zur Seite. Das Gymnasium in Edenkoben hat uns sehr geholfen. Wir haben uns wöchentlich getroffen, um die Situation meiner Tochter zu besprechen. Die Traumaambulanz in Landau, die Therapeutin meiner Tochter, sie alle haben uns sehr geholfen. Ich glaube, dass all dies nicht die Regel ist bei Missbrauchsfällen.

Was, glauben Sie, ist denn die Regel?

Die Regel ist, dass man erst gar nicht weiß, dass was passiert ist. Dann kommt irgendwann ein dunkler Verdacht. Der Verdacht erhärtet sich. Man geht zur Polizei und stellt fest, dass es schwierig wird, den Missbrauch nachzuweisen. Es kommt zu einer Aussage-gegen-Aussage-Situation. In der Regel finden die meisten Missbrauchsfälle im sozialen Umfeld statt, da ist keine externe Person der Täter. Da gibt es nicht so viele Unterstützer. Das meine ich, wenn ich sage, dass wir ein Stück weit privilegiert waren wegen des hohen medialen und gesellschaftlichen Interesses an diesem Fall.

Mathias atmet durch. „Ich muss erst mal eine rauchen“, sagt er und geht in den Garten. Er beeilt sich, er hat noch viel zu sagen.

Sie merken ja, dass ich das Thema sehr konfrontativ angehe. Aber ich muss damit auch mal wieder aufhören. Die letzten Monate gab es für mich nur das Thema Entführung, ich habe alle Kraft auf dieses Thema aufgewendet. Meine Frau tickt da zum Beispiel ganz anders. Sie sorgte für Normalität bei uns in der Familie. Das passte super.

Sie sind als Nebenkläger vor Gericht aufgetreten. Wie haben Sie den Prozess vor dem Landgericht Landau erlebt?

Sicherlich ist „Vorfreude“ nicht das treffende Wort, aber für mich war der Prozessbeginn sehr positiv besetzt, weil ich erwartet habe, dass der Entführer meiner Tochter zur Rechenschaft gezogen wird. Es war eine Möglichkeit für mich, mich zur Wehr zu setzen. Das hat auch meine Traumatherapeutin zu 100 Prozent unterstützt. Ich hatte von Anfang an das Bestreben, den Prozessverlauf so gut wie es mir möglich ist zu beeinflussen – und zwar, indem ich unsere Perspektive aufzeige. Ich wollte objektiv und nachvollziehbar die Konsequenzen so einer Tat aufzeigen, vor allem für uns. Konkret habe ich zum Beispiel aufgezeigt, dass unsere Tochter zum Prozesszeitpunkt immer noch Schwierigkeiten mit dem Schulweg hatte und eine Traumatherapie machte.

Hatten Sie das Gefühl, man hört Ihnen zu?

Ja, ich hatte das Gefühl, alles anbringen zu dürfen und Gehör zu bekommen. Ich habe auch vor Gericht Empathie von allen Seiten erfahren. Vom Gericht selbst, aber auch von der Verteidigerin des Angeklagten. Dafür habe ich mich am Ende auch bedankt. Mir war es aus mehreren Gründen wichtig, als Nebenkläger dabei zu sein. Erstens: Ich kann den Prozessverlauf beeinflussen. Zweitens: Ich bekomme wichtige Informationen. Es gab zum Beispiel Erkenntnisse aus dem Verfahren, die mir wiederum für die Therapie meiner Tochter hilfreich erschienen. Und dann gab es für mich auch noch die Möglichkeit, durch eine allumfassende Aussage von mir es meiner Frau zu ersparen, ebenfalls als Zeugin aussagen zu müssen.

„Da waren täglich sechs Psychologen da. Es gab Krisentreffen. Viele Lehrer hatten Tränen in den Augen.“

Mathias

Musste Ihre Tochter aussagen?

Nein, sie musste nicht aussagen, weil der Angeklagte geständig war.

Im Strafprozess stehen die mutmaßlichen Täter im Mittelpunkt. Hatten Sie das Gefühl, dieser Prozess war auch ein Prozess für das Opfer?

Es liegt natürlich in der Natur der Dinge, dass in einem Strafverfahren der Angeklagte im Mittelpunkt steht. Zeitweise hatte ich auch das starke Gefühl, dass wir als Geschädigte komplett aus dem Fokus geraten sind. Zum Beispiel haben wir einen ganzen Vormittag damit verbracht, darüber zu reden, ob der Angeklagte durch den Polizeieinsatz Verletzungen davongetragen habe. Polizisten wurden befragt, Untersuchungsbefunde besprochen, der Angeklagte angehört.

Was konnten Sie als Nebenkläger tun, um die betroffene Seite in den Vordergrund zu rücken?

Wir haben zum Beispiel über die Nebenklage den Rektor der Schule meiner Tochter als Zeugen geladen. Die Schule befand sich ja auch im absoluten Ausnahmemodus. Da wird auf dem Schulweg ein paar Meter vor dem Schulgelände ein Mädchen entführt. Da war ein Kriseninterventionsteam da. Da waren täglich sechs Psychologen da. Es gab Krisentreffen. Viele Lehrer hatten Tränen in den Augen. Der Rektor hat das einsortiert, er sagte: Für eine Schule gibt es nur zwei andere Szenarien, die eine ähnliche Dramatik zur Folge haben – ein Amoklauf oder der Tod eines Schülers. Wir wollten aufzeigen, dass so etwas kein isoliertes Verbrechen ist, sondern dass es Kreise zieht.

An wen denken Sie bei den Kreisen noch, abgesehen von der Schule?

Ich denke zum Beispiel an unseren Arbeitgeber. Meine Frau und ich sind beide seit über 20 Jahren in dem Krankenhaus tätig, wir sind dort natürlich gut vernetzt und bekannt. Wir wissen, dass in der ersten Woche die Betroffenheit so groß war, dass die Kollegen auf dem Boden gesessen und geweint haben. Das sind ja auch Eltern mit Kindern, das ist auch deren schlimmste Horrorvorstellung.

Screenshot: „Bild“-Zeitung

Zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie das Urteil als „vollen Erfolg“ bezeichnet. Wie wichtig war Ihnen die Strafzumessung?

Es war uns natürlich wichtig, dass der Täter bei nachgewiesener Schuld angemessen bestraft wird. Und die Folgen einer Tat sind für die Strafzumessung nicht irrelevant. Ich wollte das Gericht dabei unterstützen, indem ich bestmöglich die Konsequenzen der Tat für alle Beteiligten aufzeige – mit dem Ziel, so auf die Strafzumessung einzuwirken. Ich habe, sachlich und objektiv, von den Folgen für meiner Tochter berichtet. Von den Folgen für Geschwister, für die Eltern, von den Therapien, von den unzähligen Tränen, von meiner beruflichen Reduzierung, all das muss das Gericht wissen. Auf diesem Weg konnte ich mich nach dem schrecklichen Angriff auf meine Familie zur Wehr setzen. Es ist auch aus psychologischer Sicht wichtig, sich zur Wehr zu setzen.

Wir sprachen über die öffentliche Aufmerksamkeit, die Ihr Fall und der Prozess erfahren haben, und die Empathie, die Sie erfahren haben. Wie haben Sie die Medien wahrgenommen?

Eigentlich auch sehr positiv. Es war ja sehr viel los in den Medien, vor allem in den ersten Tagen. Ich bin mehrfach gewarnt worden, dass Reporter bald vor unserer Haustür stehen würden. Uns hat aber nie jemand direkt angesprochen.

Fast vier Stunden sind mittlerweile vergangen, die Rebenstöcke hinter der Sackgasse liegen längst im Dunkeln. Mathias sortiert seine Unterlagen und legt die Dokumente zurück in den Aktenordner. Ein letztes Mal liest er seinen Notizzettel, „habe ich etwas Wichtiges vergessen?“ Er schüttelt den Kopf.

Wenn alles vorbei ist, wenn das Urteil rechtskräftig geworden ist – was werden Sie dann tun?

Ich habe mich ja bewusst für diesen konfrontativen Weg der Auseinandersetzung mit dem Geschehen entschieden. Zwischendurch habe ich aber mal gedacht, dass es auch ein guter Weg gewesen wäre, das alles zu 100 Prozent den Juristen zu überlassen. Jeden Tag, wenn ein Gerichtstermin stattfindet, hätte ich dann etwas Cooles mit meinen Kindern machen können. Wir wären ins Schwimmbad gegangen, wir wären ins Kino gegangen, wir wären auf den Markt gegangen. Aber ich glaube, dass es auch gut war, wie es war, und dass ich vor Gericht einiges erreichen konnte. Mit der Urteilsverkündung konnten wir aus Perspektive meiner Familie bereits ein ganz großes Stück von dieser Lebensphase abschließen. Das Leben geht weiter, und ich blicke total optimistisch in die Zukunft.

Karsten Krogmann

Transparenzhinweis:

Die Familie von Mathias wurde von der Außenstelle Südpfalz des WEISSEN RINGS unter Leitung von Heinz Pollini betreut. Unter anderem finanzierte der Verein eine einwöchige Erholungsmaßnahme für die Familie nach der Tat.

Redaktionell abgeschlossen war das Interview bereits im November 2024. Auf Wunsch der Familie haben wir es aber erst nach der Entscheidung des Bundesgerichtshof über den Revisionsantrag des Angeklagten veröffentlicht.