Rendsburg

Der Fußgänger

Seit mehr als 40 Jahren legt sich Hans A. Möller für den WEISSEN RING in Schleswig-Holstein ins Zeug. Denn Einsatz für den Opferschutz, das heißt für ihn vor allem: laufen und laufen und laufen.

Foto: Karsten Krogmann

Angenommen, man wollte Hans A. Möller jemandem beschreiben, der ihn nicht kennt: Welches Möllermerkmal würde man zuerst nennen? Den tadellosen Anzug, den er trägt, dunkelblau mit hellblauer Streifenkrawatte, im Knopfloch die Uhrenkette und am Revers den Bandsteg, Hinweis auf sein Bundesverdienstkreuz? Das Lachen, kräftig, ehrlich und spontan, das sofort gute Laune macht? Oder genügten diese drei Wörter: allzeit bestens vorbereitet?

„Kommen Sie“, sagt Möller, „ich zeige Ihnen erst einmal das Haus. Immerhin war das hier 20 Jahre die Außenstelle des WEISSEN RINGS.“ Er lacht das Möllerlachen und geht flink voran, treppauf und wieder treppab bis in den Keller, und natürlich zeigt er unterwegs kein Haus, sondern sich selbst: Hans A. Möller aus Rendsburg, Schleswig-Holstein, 84 Jahre alt, davon 40 beim WEISSEN RING.

Im Haus hängen Bilder an der Wand. Das Elternhaus in Süderbrarup, „Sägewerk, Torfwerk, Fuhrbetrieb, Landwirtschaft in einem“, erklärt Möller. Seine Ehefrau Heidi, verstorben 2015 nach 56 gemeinsamen Jahren, „so eine liebe Frau, ich habe ein Riesenglück gehabt.“ Die Fotoecke mit den WEISSER RING-Momenten: wechselnder Bundesvorstand, wechselnder Landesvorstand, dazwischen Hans A. Möller, der immer blieb.

„Sofort überzeugt“

Vor allem aber zeigt das Möllerhaus, dass dieser Mann nichts, aber auch gar nichts bereit ist dem Zufall zu überlassen. Oben im Büro stehen zwei Computer, zwei Bildschirme, zwei Tastaturen („voll funktionsfähig, falls einer ausfällt“). Im Schlafzimmerschrank hat er das Pflegefach seiner Frau neu sortiert („für mich, falls ich gepflegt werden muss“). Und in der Diele parkt neben der Eingangstür ein weinroter Krankenhaus-Notfallkoffer, er hatte ihn einst für seine Frau gepackt („jetzt ist das meiner“). Eine Inhaltsliste liegt bei: 1. Patientenverfügung, 2. Medikamentenplan, Schnellhefter für die Krankenhausunterlagen, 4. zwei Schlafanzüge, 5. drei Unterhemden, so geht es weiter mit Krankenhausnotwendigkeiten bis Punkt 18.

Einmal allerdings war Möller, Banker und Revisor, tatsächlich unvorbereitet. 41 Jahre ist das her, Möller spielte damals regelmäßig Skat in Rendsburg, als er am Jackett eines Skatbruders eine Nadel entdeckte mit einem ihm unbekannten Logo. „WEISSER RING?“, fragte Möller. „Was ist das?“ Der Skatbruder erklärte es ihm, Möller war „sofort überzeugt“, wie er sich erinnert. Wenig später unterschrieb er eine Beitrittserklärung, Mitgliedsnummer 8986, Name, Adresse, hinter dem Satz „Ich kann mich in meiner Freizeit für den Verein aktiv betätigen“ setzte er brav das Kreuz bei „Ja“. Zum 1. Januar 1980 wurde er Mitglied, kaum sechs Monate später sollte er die Leitung der Außenstelle Rendsburg übernehmen. Sein Skatbruder hatte auswärts eine Rektorenstelle angenommen und braucht einen Nachfolger. „Warum ich?“, fragte Möller. „Weil du der Einzige bist, der auf dem Antrag ,Ja‘ angekreuzt hat“, antwortete der Skatbruder.

Möller lacht sein Möllerlachen. „Schreiben Sie seinen Namen ruhig auf, viele wissen gar nicht mehr, dass er der erste Außenstellenleiter hier war“, sagt er: „Adolf-Walter Paschke.“

„Außenstellenleiter“, das klingt nach Team und Unterstützung, und tatsächlich findet man auf der Homepage der Außenstelle Rendsburg heute die Namen von 16 Ehrenamtlichen. Damals aber war Möller allein. „Ich hatte kein Handy, ich hatte kein Fax, ich hatte kein Auto. Was ich hatte, waren ein Telefon und zwei gut besohlte Schuhe.“ Möller lief in die Schulen, um vom WEISSEN RING zu erzählen, ins Rathaus, zur Polizei. Er schickte Berichte über den WEISSEN RING an die Zeitung. Wenn die Zeitung einen Bericht veröffentlicht hatte, legte er die Zeitung neben sein Manuskript und verglich Wort für Wort. Was hatte die Redaktion verändert? Wie wollte sie die Berichte wohl haben? Bald druckte die Zeitung seine Texte unverändert ab.

In der Zeitung suchte Möller auch nach Menschen, die seine Hilfe brauchten, der WEISSE RING war ja trotz der Möllerarbeit noch nicht sehr bekannt in Schleswig-Holstein. Weil in den Berichten über Straftaten natürlich keine Adressen von Opfern standen, bat Möller die Redaktion, Kontakt herzustellen. Wenn das klappte, lief er los.

Erschüttern kann ihn nichts mehr

40 Jahre später läuft Hans A. Möller immer noch täglich durch Rendsburg, über den Paradeplatz zum Beispiel zum Nord-Ostsee-Kanal und von dort weiter zum Friedhof Neuwerk, wo seine Frau ruht. Wenn er Besuch hat, so wie heute, führt er ihn unterwegs durch den Fußgängertunnel unterm Kanal und wieder zurück. „Wussten Sie, dass dies eine der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraßen der Welt ist? Befahrener als der Panamakanal und der Suezkanal!“ Von der Restaurantterrasse am Kanal aus lässt sich wunderbar den Containerschiffen zuschauen, Möller lädt zu Schnitzel ein. „Ich hab’ Gutscheine geschenkt bekommen, die kann ich allein gar nicht wegessen“, sagt er und lacht.

Erschüttern könne ihn nichts mehr, sagt Möller beim Essen und zählt auf. Sein Sohn: seit fast 20 Jahren schwerbehindert. Seine Frau: dement, jahrelang bettlägerig, schließlich der Abschied. „Das war schlimm für mich“, sagt Möller, „aber ich konnte mich darauf vorbereiten.“ Er blickt nicht bitter zurück, nicht einmal traurig; seine Erinnerungen sind fröhlich und voller Leben, immer wieder unterbricht Möllerlachen seine Geschichten.

Vereinsgründer Eduard Zimmermann und Hans A. Möller im Gespräch ∙ Foto: Privat
Vereinsgründer Eduard Zimmermann und Hans A. Möller im Gespräch ∙ Foto: Privat

Hunderte Opferfälle betreut

Und die Opferfälle? Hunderte muss er doch betreut haben in all den Jahren! „Ja“, sagt Möller, „die waren schon schlimm manchmal.“ Der getötete Zehnjährige. Die Frau, die der Mann mit Salzsäure überschüttet hatte. Der Wirt seines Stammlokals, den ein Betrunkener die Treppe heruntergeworfen hatte und der nicht mehr arbeiten konnte. Möller half dem Wirt später privat weiter, stritt mit Berufsgenossenschaft, Banken, Versicherungen und erkämpfte Tausende Euro für den Mann. „Man kann viel erreichen“, sagt er. „Aber das Erste und Wichtigste, was man können muss, ist zuhören.“

Den Opfern sagte er oft: „Schreiben Sie es auf! Schreiben Sie es sich von der Seele!“ Möller selbst schreibt alles auf, seitenlang dokumentiert er sein Leben, seine Arbeit, sein Ehrenamt. Anfangs schickte er monatliche Berichte nach Mainz, die Auskunft gaben über seine Außenstellenleitertätigkeit.

Heute übernimmt er Opferfälle nur noch „auf ausdrücklichen Wunsch“, wie er sagt. Lieber nutzt er seine zweite Begabung neben dem Zuhören, das ist das Hinsehen: Er liest die Finanzberichte des Vereins gegen, das Jahrbuch, das Mitarbeiterhandbuch, Korrekturen und Verbesserungsvorschläge meldet er der Bundesgeschäftsstelle in Mainz. „Ich möchte nicht wissen, wie oft die anfangs in Mainz gesagt haben: ,Der Möller schon wieder!‘“ Möllerlachen. Heute sagt das keiner mehr. Zum 40. Jubiläum hat ihm der WEISSE RING 21 Videogrüße geschickt, wegen Corona musste der offizielle Festakt ja ausfallen:

„Das, was Herr Möller schreibt, stimmt. Wenn Sie uns auf was hinweisen, wenn wir was übersehen haben, dann haben Sie immer Recht. Das kann ich an dieser Stelle offen und offiziell bestätigen.“
Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS

„Nie habe ich Sie auch nur im Ansatz missgelaunt, müde oder gar erschöpft erlebt. Sie scheinen über eine unendliche Quelle an Kraft und Zuversicht zu verfügen.“
Manuela Söller-Winkler, Landesvorsitzende Schleswig-Holstein

„Er ist ein geselliger Mensch. Ich denke an gemeinsame Stunden im Bierkeller in Malente oder anlässlich der Bundesdelegiertenversammlung. Anzumerken ist aber auch, Hans war am Abend und in der Nacht der Letzte. Doch am nächsten Morgen war er der Erste. Und die Kassenabrechnung hatte er auch schon erledigt.“
Uwe Rath, Ex-Außenstellenleiter Rendsburg-Eckernförde

Ein Bundesverdienstkreuz für Möller

1979 war Rendsburg die 81. Außenstelle des WEISSEN RINGS. Heute gibt es knapp 400 Außenstellen. 120 hauptamtliche Mitarbeiter arbeiten rund 2.900 Ehrenamtlichen zu. Manche Mitarbeiter sagen, dem Verein sei das Spontane, das Unbürokratische der frühen Jahre unterwegs abhandengekommen. Möller findet das gut. Die Sicherung der Gemeinnützigkeit durch Vorschriften und Leitlinien, die Bedürftigkeitsprüfung in Mainz, die Mitarbeiterschulung durch die vereinseigene Akademie, „die Gesetze haben sich geändert, ich halte das auch für richtig“. Wenn der Verein sich weiterentwickelt, entwickelt Möller sich halt mit. „Ich habe jetzt einen Internetzugang beantragt“, sagt er, „zum ersten Mal im Leben, mit 84.“

„Wir sind Ihnen unendlich dankbar, dass Sie sich so in die Themen reinknien und dabei auch noch Spaß haben.“
Brigitte Meise, Leiterin des Landesbüros Schleswig-Holstein

Was muss man noch wissen über Hans A. Möller? Dass ihm 1993 der Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz am Bande verlieh? Dass er 2010 den Deutschen Bürgerpreis bekommen hat? Dass der WEISSE RING für ihn 2020 die bundesweit erste Ehrennadel in Gold anfertigen ließ? Vielleicht ist das hier wichtiger: In den nächsten Tagen bekommt er wieder einmal Besuch aus Mainz, die Finanzchefs haben sich angemeldet, sie wollen mit ihm über den Jahresbericht sprechen. Möller lacht das Möllerlachen und verspricht: „Ich bin vorbereitet!“

Karsten Krogmann