2016
Am Abend des 19. Dezember 2016 erreicht Sabine Hartwig eine Nachricht aus Sizilien. Es ist eine E-Mail von ihrem Cousin, er macht sich in der Ferne Sorgen um sie: „Bine, bist du dabei?“, fragt er. Wobei? Hartwig wundert sich. Erst als sie den Fernseher einschaltet, sieht sie, was zwei S-Bahn-Stationen weiter, am Breitscheidplatz, passiert ist: Ein Lastwagen ist in den Weihnachtsmarkt gerast, überall liegen Trümmer, Blaulichter blinken, immer mehr Rettungswagen fahren vor. Menschen wurden verletzt, Menschen wurden getötet. Die Journalisten im Fernsehen sprechen von einem Anschlag.
Hartwig, 66 Jahre alt, arbeitet seit mehr als 20 Jahren für den WEISSEN RING, seit 2002 ist sie die Berliner Landesvorsitzende. Sie versteht sofort: Dies ist eine Größenordnung, die alles sprengt, was wir kennen im Verein. Sie geht ins nahe Landesbüro, allein steht sie dort im Flur und sagt sich: Okay, der Verein kennt das vielleicht noch nicht, aber du kennst es. Das ist eine Großlage, so wie damals bei der Polizei. Und du ziehst das jetzt an dich, so wie damals bei der Polizei.
30 Jahre lang war Sabine Hartwig leitende Kriminalbeamtin bei der Berliner Polizei, 20 Jahre davon arbeitete sie im Mobilen Einsatzkommando. Oft genug hat sie eine BAO eingerichtet, wie es im Polizeideutsch heißt, eine „Besondere Aufbauorganisation“. Eine BAO braucht die Polizei, wenn die üblichen Zuständigkeiten und Mittel nicht ausreichen für einen komplexen Einsatz. So etwas braucht jetzt auch der WEISSE RING, entscheidet Hartwig, hier, im Landesbüro an der Berliner Bartningallee.
13 Menschen sind gestorben auf dem Breitscheidplatz, Dutzende wurden verletzt, körperlich oder seelisch oder beides, es gibt traumatisierte Augenzeugen und Ersthelfer. Die Opfer kommen aus verschiedenen deutschen Bundesländern, viele auch aus dem Ausland: aus Israel, Italien, Polen, Tschechien oder aus der Ukraine. Die Opfer haben Angehörige, die nicht wissen, an wen sie sich wenden können.
Schon am Morgen des 20. Dezember klingeln die Telefone im Landesbüro Sturm. Eine Studentin sucht ihre Mutter. Kinder, Eltern, Geschwister beklagen sich, dass sie bei den Hotlines nicht durchkommen oder zu falschen Krankenhäusern geschickt wurden. Die Presse ruft an, Journalisten wollen Informationen, Interviews, Opferkontakte, Fotos.
2020
„Das war das Allerschlimmste“, erinnert sich Martina Linke vier Jahre später im großen Besprechungsraum des Landesbüros, damals Lagezentrum, an die vielen Presseanfragen: Tagespresse, Frühstücksfernsehen, Abendschau. Berliner Lokalmedien, überregionale Medien, Journalistenanrufe aus Israel oder Italien. Ein Boulevardreporter fragt, ob der WEISSE RING ihm nicht Zugang zu einer Intensivstation verschaffen könne, er möchte ein schwerverletztes Opfer fotografieren.
Linke, Jahrgang 1954, war früher ebenfalls bei der Kriminalpolizei. Sie hatte mit Raub und Erpressung zu tun, mit Mord und Totschlag, später wurde sie die Opferschutzbeauftragte des Landeskriminalamts. Schon aus der Polizeiarbeit kennt sie Sabine Hartwig, seit 2012 ist sie ihre Stellvertreterin beim WEISSEN RING. Diese Dimension ist dennoch neu für sie. Bis heute betreut Martina Linke Opfer des Anschlags auf dem Breitscheidplatz.
2016
Großlage bedeutet auch: Viele Menschen stellen Fragen, viele Menschen geben Antworten. Die Folge kann ein Durcheinander sein, Kompetenzwirrwarr, Gerüchte, Falschinformation. Sabine Hartwig legt ein paar Regeln fest. Die erste richtet sich an ihre drei Mitarbeiterinnen im Landesbüro und lautet: Bitte dokumentiert alles! Alle Erfahrung in so einer Situation zeigt, dass man nachmittags wieder vergessen hat, was vormittags besprochen wurde.
Der Breitscheidplatz liegt im Ortsteil Charlottenburg. Erste Anlaufstelle für Opfer wäre demnach die Außenstelle West I. Aber Hartwig ist klar, dass eine Außenstelle das unmöglich allein schaffen kann. Sie informiert die anderen Berliner Außenstellen. Am Ende werden es 125 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sechs Landesverbänden des WEISSEN RINGS sein, die Anschlagsopfer betreuen.
Das Telefon in Berlin läutet weiter Sturm. Die zweite Regel, die Sabine Hartwig ausgibt, lautet: Niemand gibt Auskünfte an Journalisten, nur ein festgelegter Personenkreis spricht. Presseanfragen müssen über die Pressestelle der Bundesgeschäftsstelle in Mainz laufen. Medienanfragen können Menschen, die eigentlich anderes zu tun haben, nämlich Verbrechensopfern zu helfen, unter Stress setzen. Andererseits brauchen Opferhelfer die Medien auch. „Tue Gutes und rede darüber“, das ist nicht nur ein Spruch: Opfer und Angehörige müssen wissen, an wen sie sich wenden können, damit ihnen geholfen werden kann. Und auch Spender sollen erfahren, wo ihre Spenden gerade besonders nötig gebraucht werden. Denn Opferhilfe kostet Geld.
Bereits um 9.55 Uhr kommt am 20. Dezember grünes Licht aus Mainz für einen Opferhilfe-Fonds über 50.000 Euro. Die Obergrenze für finanzielle Soforthilfen für die Opfer des Terroranschlags steigt auf 1.000 Euro. „Wir können den Anschlagsopfern helfen“: Diese Nachricht streut Sabine Hartwig in ein breites Netzwerk. Mails gehen raus an die Polizei Berlin, an Landeskriminalamt, Bundeskriminalamt, Generalstaatsanwaltschaft, Generalbundesanwalt.
Gleichzeitig stellen sich die bekannten Fragen. Das Opferentschädigungsgesetz greift nicht, wenn die Tat mit einem Kraftfahrzeug verübt wurde. Auch nicht, wenn ein hasserfüllter islamistischer Terrorist einen Sattelzug als Waffe gegen unschuldige Weihnachtsmarktbesucher einsetzt. Welche Ansprüche haben die Betroffenen stattdessen? Das Landesbüro nimmt Kontakt zur Verkehrsopferhilfe auf, zur Unfallhilfe, zum Landesamt für Gesundheit und Soziales.
Regeln helfen, eine Großlage zu bewältigen. Es gibt aber keine Regel, die dabei hilft, die vielen Opferberichte zu bearbeiten.
2020
„Ich hatte eine junge Frau am Telefon“, erinnert sich Tina Wiedenhoff. „Sie rief für ihren Freund an, der als Ersthelfer am Breitscheidplatz war. Er wollte wissen, ob die Frau überlebt hat, der er geholfen hat. Er selbst hat es nicht geschafft, bei uns anzurufen, er konnte es nicht.“
Wiedenhoff, 55 Jahre alt, arbeitet seit 30 Jahren für den WEISSEN RING, sie ist die Büroleiterin in Berlin. „Der junge Mann hatte stundenlang bei der verletzten Frau gesessen. Ihr Bein war abgerissen. Die Freundin beschrieb mir die Frau ganz genau, sie trug eine weinrote Jacke. Der erste Notarzt ging vorbei. Diese weinrote Jacke, die hat sich mir so eingeprägt. Ich habe mir das die ganze Zeit vorgestellt, wie der junge Mann da neben der Frau mit der weinroten Jacke saß.“
Hat die Frau überlebt? „Ich weiß es nicht. Ich habe hinterher in den Berichten immer nach Hinweisen auf diese Frau gesucht.“ Wiedenhoff fand keine Hinweise.
2016
Sabine Hartwig legt noch etwas fest: Wir brauchen Supervision für unsere Mitarbeiter. Helfen kann bedeuten: da sein, zuhören, mitfühlen. Hilfe kann aber auch materiell sein. Bloß welche materielle Hilfe ist für wen die richtige? Eingeübte Mechanismen können in so einer Situation ins Leere laufen. Oft brauchen Kriminalitätsopfer anwaltliche Unterstützung, der WEISSE RING hilft mit Erstberatungsschecks. Doch zeitnah nach einem Terroranschlag lindern solche Schecks keine Not, wenn der Täter zuerst auf der Flucht ist und wenig später von der Polizei erschossen wird. Der Familie eines toten Terroropfers hilft es auch nichts, wenn der Verein zerstörte Kleidung und Schuhe ersetzt. Aber sie braucht vielleicht Reisekosten. Heilbehandlungen müssen finanziert werden, Finanzengpässe aufgefangen. Jemand muss die Koordination der Hilfen übernehmen. Sabine Hartwig teilt für die Weihnachtstage Sonderschichten ein im Landesbüro.
Ein junger Mann, selbstständig, liegt wochenlang im Koma, die Ärzte operieren ihn wieder und wieder, anschließend geht er für Monate in die Reha. Weihnachtsmarkttrümmer haben ihn getroffen, der Lastwagen hatte sie in die Luft geschleudert. Kopf, Arme, Hüfte, Beine, die linke Körperseite ist schwer verletzt. Wie soll der junge Mann die Miete für sein Büro weiterbezahlen? Zerstört der Anschlag auch seine berufliche Existenz?
Ein anderer Mann liegt ein Dreivierteljahr auf der Intensivstation. Seine Töchter studieren, sie müssen aus Süddeutschland anreisen. Die Ehefrau nimmt sich eine kleine Wohnung in Berlin, um bei ihrem Mann sein zu können. Wer trägt die Kosten? Bringt der Anschlag die Familie in schwere Finanznöte?
Der WEISSE RING hilft dem jungen Mann und der Familie. Ehrenamtliche Hilfe kann für Menschen niederschwellig wirken, die vor staatlicher Unterstützung zurückschrecken. Es gibt aber auch Leute, die lehnen spendenfinanzierte Hilfe ab, mit dem Satz: Andere Menschen haben das Geld nötiger als ich, ich komme schon klar. Wieder andere, darunter Opfer, Angehörige, Augenzeugen, bieten anschließend ihre Mitarbeit als ehrenamtliche Helfer an.
2020
Vier Jahre nach dem Terroranschlag ist der Breitscheidplatz festungsgleich gesichert. Hohe Zäune umringen ihn, schwere Metallpoller ragen aus dem Beton, Polizistensichern den Platz in Einsatzuniform. Der Terroranschlag hat deutschen Weihnachtsmärkten die heimelige Leichtigkeit genommen, den Rest gegeben hat ihnen in diesem Jahr das Corona-Virus: Ein Dutzend Holzbuden stehen wie hingewürfelt über den Platz verteilt, vielleicht doppelt so viele Besucher sind unterwegs.
Auf den Stufen der Gedächtniskirche stehen Blumen, Fotos, Gedenklichter. Die Namen der Getöteten sind in den Beton geschnitten, vor den Stufen zieht sich ein goldener Riss durchs Pflaster. Kurz vor dem Jahrestag werden die Andenken täglich mehr.
Im Landesbüro nennt Sabine Hartwig ein weiteres wichtiges Stichwort zur Opferhilfe nach Ereignissen dieser Dimension: Nachsorge. Opferhilfe endet nicht mit einem Stichtag. Hier im Landesbüro gab es im Juni 2017 ein Hinterbliebenen-Treffen. Im März 2019 folgte ein Verletzten-Treffen. Einige Zitate von Verletzten:
„Der Austausch im privaten Raum, ohne Politiker, war hervorragend.“
„Ich habe meine eigenen Beeinträchtigungen erst jetzt richtig erkannt und weiß jetzt, dass ich ein Trauma erlitten habe.“
„Das Kennenlernen von Gleichgesinnten war ein großer Gewinn.“
„Der Abend im Friedrichstadtpalast war eine Bombe.“ Der WEISSE RING hatte zu einem Kontrastprogramm zu den aufwühlenden Gesprächen eingeladen: eine Revue im berühmten Friedrichstadtpalast.
Es gibt positive Geschichten zu erzählen. Der junge Mann, selbstständig, der sein Büro behalten wollte, ist wieder arbeitsfähig, sein Büro läuft gut. Der andere Mann, der so lange im Koma lag, kann kurze Strecken wieder laufen. Eine Familie, allesamt in Therapie, berichtet, wie eng sie zusammengerückt sind durch die traumatische Erfahrung. Die bei dem Anschlag schwerverletzte Tochter hat ein Kind bekommen.
2016
Sabine Hartwig und Martina Linke, beide Referentinnen in der WEISSER RING Akademie, dem Ausbildungszentrum des Vereins, fragen sich: Was wäre, wenn so etwas woanders passiert wäre? In einer Kleinstadt zum Beispiel, wo es nicht so viele Mitarbeiter gibt und kein großes Landesbüro? Müssen wir nicht damit rechnen, dass so etwas wieder geschieht? Wir müssen vorbereitet sein. Wir brauchen Leitlinien, wir brauchen ein Ausbildungsprogramm, wir brauchen ein Netz von Koordinatoren für solche Ereignisse.
2020
Fünf Mal fand inzwischen das Wochenendseminar „Großereignisse“ der WEISSER RING Akademie statt, zuletzt im September 2020 in Fulda, Sabine Hartwig war natürlich wieder dabei. Die Teilnehmer kamen aus Thüringen, Hamburg oder Bayern, Referenten aus der Bundesgeschäftsstelle und von außerhalb trugen vor. Sie sprachenüber den Aufbau eines Lagezentrums, korrekte Dokumentation, über Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, rechtliche Fragen und über die Nachsorge. Dutzende ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des WEISSEN RINGS haben das Seminar mittlerweile durchlaufen, jeder Landesverband hat inzwischen einen Koordinator für Großereignisse benannt.
„Wir sind vorbereitet“, sagt Sabine Hartwig.
Dezember 2020, im Berliner Landesbüro klingelt das Telefon, es rufen wieder Journalisten an. Sie suchen Kontakt zu Überlebenden des Anschlags am Breitscheidplatz für ihre Jahrestags-Berichterstattung. Sabine Hartwig kann ihnen nicht helfen. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt musste der WEISSE RING bereits fünf Mal die neu geschaffenen Leitlinien für Großereignisse anwenden:
Am 7. April lenkte ein Mann in Münster, Westfalen, einen Kleinbus in eine Gruppe Menschen. Vier Menschen starben, mehr als 20 wurden verletzt.
Am 9. Oktober 2019 versuchte ein Mann in Halle, Sachsen-Anhalt, in die Synagoge einzudringen, um Juden zu töten. Er ermordete zwei Menschen, zwei weitere verletzte er auf der Flucht schwer, Dutzende Menschen erlitten Traumata.
Am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau, Hessen, neun Menschen mit Migrationshintergrund in und vor Shisha-Bars. Anschließend tötete er in seinem Elternhaus zuerst seine Mutter und dann sich selbst.
Am 24. Februar 2020 fuhr ein Mann in Volkmarsen, Hessen, mit seinem Auto in eine Zuschauergruppe beim Rosenmontagsumzug. Mehr als 150 Menschen wurden verletzt.
Zuletzt kam es am 1. Dezember 2020 in Trier, Rheinland-Pfalz, zu einer Amokfahrt. Ein Mann tötete mit seinem Wagen fünf Menschen, 24 weitere verletzte er.
Karsten Krogmann