Weilheim-Schongau

Der Akribische

Lorenz Haser ist seit 30 Jahren für den WEISSEN RING tätig. Seit seiner Pensionierung hat er sein zeitliches Engagement weiter gesteigert.

Foto: Kathrin Hollmer

Genau 6.654 Stunden. Zusammen sind das 277 Tage, fast 40 Wochen, die Lorenz Haser seit 2006 für den WEISSEN RING gearbeitet hat. „Das ist jetzt aber nur die Verwaltung“, sagt er. Haser scrollt durch die Tabelle auf seinem Computer. Im weißen Hemd und mit Fliege – „Schließlich wird ein Foto gemacht“ – sitzt er im Arbeitszimmer in seinem Haus in Peißenberg im oberbayerischen Landkreis Weilheim-Schongau. Neben seiner Urkunde zum 25. Jubiläum beim WEISSEN RING hängen Familienfotos an der Wand. Auf dem Mauspad ist er mit seinem Enkel abgebildet.

Seit 30 Jahren arbeitet Lorenz Haser, 69, für den WEISSEN RING. Rund 30 Stunden im Monat, rechnet er aus, braucht er als Außenstellenleiter für die Verwaltung. Wie viele Fälle er in den Jahren betreut hat, kann er hingegen nicht sagen. „Manche Sachen sind mit einem Telefongespräch erledigt, weil ein Opfer nur eine Auskunft oder einen Kontakt braucht.“ Andere ziehen sich über Jahre. Seit der Gründung der Außenstelle 1987, das kann er wieder aus seiner Tabelle lesen, haben er und seine ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen 1.400 Opfer betreut.

Haser leitete die Außenstelle Weilheim-Schongau von 1994 bis 1999, nach einer beruflich bedingten Pause übernahm er von 2000 bis 2006 die Stellvertretung der Außenstellenleitung, bevor er wieder die Leitung übernahm. Seine akribische Art hat mit Hasers Beruf zu tun. 42 Jahre war er Polizist, davon 37 bei der Kriminalpolizei. Über seine Arbeit will er allerdings nicht mehr sprechen. „Jetzt bin ich schon seit 2015 im Ruhestand“, sagt er. Seit der Pension widmet er sich geschätzt rund 80 Stunden pro Monat der ehrenamtlichen Arbeit für den WEISSEN RING.

„Ich erfasse wirklich alles“, sagt Haser. Der Beamte in ihm scheint immer wieder durch, und Haser kommt doch noch einmal auf seinen Beruf zu sprechen. Über den fand er nämlich einst zum WEISSEN RING. „Als Polizist muss man neutral sein, aber die Opfer taten mir immer leid“, sagt er. „Die stehen oft alleine da.“ Bei Vernehmungen, erzählt er, kam er mit den Opfern von Raubdelikten und bei Tötungsdelikten mit Hinterbliebenen ins Gespräch. „Die sind fix und fertig und wissen oft nicht, wie es weitergehen soll, im Leben, aber auch finanziell.“ Als 1994 sein Chef bei der Morgenbesprechung verkündete, dass die Außenstelle wegen Personalmangels vor dem Aus stehe, antwortete Haser geradeheraus: „Schade.“ Sein Chef reagierte ebenso spontan: „Dann mach es halt du“, sagte er. Na gut, Haser zuckt beim Erzählen mit den Schultern, „dann habe ich es halt gemacht.“ So konnte er ehrenamtlich den Opfern helfen, deren Schicksale ihn im Job berührten.

Haser und sieben Ehrenamtliche in der Außenstelle begleiten vor allem Opfer von Sexualdelikten, Körperverletzung, sogenannter „häuslicher Gewalt“ und Stalking. „Man erinnert sich ja hauptsächlich an die ‚spektakuläreren‘ Fälle“, sagt er und setzt Anführungszeichen in die Luft. Ihm fällt eine Frau ein, die er betreute und die später ein Buch über ihr Leben schrieb. Haser erinnert sich an die Vorstellung und Lesung. „Sie schrieb, dass sie sich das Leben genommen hätte, wenn der WEISSE RING nicht gewesen wäre“, sagt Haser. „Da ist man schon stolz.“

Mit den Opfern trifft sich Haser meistens an öffentlichen Orten, zum Beispiel im Café. „Das Problem auf dem Land ist, dass jeder jeden kennt. Wenn ich öfter mit jemandem gesehen werde, fragen die Leute gleich: Was will die oder der vom WEISSEN RING? Was ist denn da passiert?“ Seit dem Jahr 2000 war Haser – er zeigt wieder in seine Tabelle – insgesamt 89-mal als Referent oder Leiter für die verschiedene Seminarformate für die Ehrenamtlichen tätig.

2019 hat er in seiner Außenstelle zudem ein Team aufgestellt, dass sich nach Großereignissen, wie etwa Amokläufen oder Anschlägen, um die Betreuung von Opfern und Hinterbliebenen kümmert. „Bisher sind wir verschont geblieben“, sagt er. „Gott sei Dank.“

Seit 30 Jahren arbeitet Lorenz Haser, 69, für den WEISSEN RING. Foto: Kathrin Hollmer

Haser glaubt, dass es für Opfer das Entscheidende ist, „dass wir Zeit haben, mit ihnen reden, auf sie eingehen. Oft sagen die Opfer, ich sei der Erste, der ihnen richtig zuhört.“ Im Gespräch versucht er herauszufinden, was sein Gegenüber braucht. „Jedes Opfer ist anders – aber alle werden gleich behandelt“, sagt Haser. „Wir sind für die Opfer da, und wir glauben dem Opfer.“ Das ist auch seine Erfahrung vor Gericht. „Auch wenn die Strafe gering ausfällt – Hauptsache, das Opfer weiß: Die haben mir geglaubt.“

In diesem Jahr wird Haser 70. Vor vier Jahren wollte er eigentlich schon aufhören, dann verlieh ihm 2020 die Landrätin im Namen des Bundespräsidenten die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland, die höchste Auszeichnung, die die Bundesrepublik als Anerkennung für Verdienste um die Allgemeinheit vergibt. Haser führt ins Wohnzimmer und holt die Schatulle mit der Medaille aus dem Wohnzimmerschrank. „Natürlich freue ich mich“, sagt Haser und fügt bescheiden an: „Aber hätten sie nicht auch andere verdient?“

Während der Pandemie wollte er die Außenstelle nicht im Stich lassen. Sein neuer Plan: Zwei Jahre will er sie mindestens noch leiten, vielleicht drei. Fünf sollen es aber nicht mehr werden. „Die Mitarbeiter sagen immer, ich darf nicht aufhören, aber ich will auch nicht am Sessel kleben“, sagt er. „Und wer weiß, wie lange ich noch fit bin?“ Er will sich rechtzeitig um eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger in der Außenstelle kümmern.

Hasers Freizeit besteht überwiegend aus seinem Ehrenamt. Ansonsten spielt er Schafkopf und Akkordeon – „beides gern, aber nicht besonders gut“, sagt er und lacht. Und da sind der Garten, ein Sportraum im Keller, vier Enkel. Seine Tochter ist seit 20 Jahren Mitarbeiterin beim WEISSEN RING, die Enkel meldete Haser direkt nach ihrer Geburt als Mitglieder an.

Auch am Wochenende ist Haser im Einsatz; früher, als er noch kein Handy hatte, war er über das Festnetz auch nachts erreichbar. Einmal rief ihn eine ältere Dame mitten in der Nacht an und wollte wissen, wie spät es sei. „Ich antwortete: Zwei Uhr, aber warum rufen Sie mitten in der Nacht bei mir an? Es stellte sich heraus, dass sie am nächsten Tag in der Früh für eine Kaffeefahrt abgeholt werden sollte und die Batterie vom Wecker leer war. Meine Nummer stand im Kreisboten – mit dem Zusatz ‚rund um die Uhr‘.“ Er erklärte ihr noch, wie sie die Batterie wechselt, dann war die Sache erledigt. Haser nimmt es mit Humor.

Sonst ist er regelmäßig mit schweren Schicksalen konfrontiert. Wie gewinnt er Abstand? „Das musste ich im Beruf schon“, sagt er. „Da gilt auch, dass man mit dem Opfer mitfühlt, aber nicht mitweint – denn wenn ich mich gehen lasse, kann ich nicht mehr logisch denken und für das Opfer da sein.“ Am erfüllendsten bei seinem Engagement für den WEISSEN RING sei, sagt Haser, „wenn ich glaube, dass es dem Opfer jetzt besser geht, und ich das Gefühl habe, dass ich da auch ein bissl mitverantwortlich bin.“

Motivation findet er aber auch, wenn er selbst gar nicht beteiligt ist. Haser erinnert sich an die Begegnung mit einem Ehepaar, das sich im Café an seinen Tisch setzte, als er auf ein Opfer wartete. Als er sein Ehrenamt erwähnte, erzählten sie, dass ihre Tochter ermordet worden sei, und dass ihnen der WEISSE RING in Nordrhein-Westfalen einen Erholungsurlaub ermöglicht habe. „Das tat ihnen offensichtlich gut“, sagt Haser. „Die Welt ist oft klein – solche Begegnungen nehme ich als Zeichen: weitermachen!“

Kathrin Hollmer