Bemerkenswert sind die Erfahrungen, die Mark Michel als Reporter im sächsischen Freiberg machte, vor allem deshalb, weil sie mittlerweile so beklemmend normal geworden sind. Zusammen mit einem Kollegen dokumentierte der Leipziger Journalist im Dezember vergangenen Jahres mit der Kamera eine Demo gegen die Corona-Politik für „Spiegel Online“. Nach ungezählten Anfeindungen bei vorangegangenen Querdenken-Protesten waren Michel und sein Kollege an diesem Tag das einzige Drehteam ohne Security-Schutz vor Ort. Er erinnert sich an eine aggressive Stimmung: „Da ging es heiß zur Sache. Wir wurden hin und her geschubst und verbal angefeindet.“ Unter anderem mit der weit verbreiteten Schmähvokabel „Lügenpresse.“ Auffällig, so der Reporter, dass sie gerade auch von älteren Herren und Damen derart rüde angegangen wurden. Als Berichterstatter habe es sich in Freiberg angefühlt, so der erfahrene Journalist und Filmemacher, „als würde mitten in einem Mob verbal eine Kloake vor dir ausgekippt“.
An diesem Abend blieb es nicht bei Beleidigungen. Bei einem Interview mit einer Polizei-Sprecherin bemerkte Michel, wie er von einer Gruppe von Männern beobachtet wurde. Auf dem Rückweg zum Auto näherte sich den Reportern dann einer dieser Männer bedrohlich von hinten, wenig später baute er sich dann vor ihnen auf, als die beiden Journalisten gerade ihre Technik in den Kofferraum einluden. Der Verfolger habe sie mit dem Handy gefilmt und obszöne Beleidigungen gebrüllt, erinnert sich Michel: „Er sah die Kamera auf dem Boden stehen und trat mit Wucht dagegen, vorne ging sofort der Objektivschutz ab“, so Michel. Sein Arbeitsgerät kostet nach eigenen Angaben ungefähr 12.000 Euro. Er habe dann versucht, den Angreifer festzuhalten, aber der habe sich losgerissen und sei weggerannt.
„Fühlten uns nicht ernst genommen“
Michel verfolgte den Mann und konnte sogar die Jacke sicherstellen, die der Flüchtende weggeworfen hatte. Die Journalisten riefen nun die Polizei an. Die Einsatzleitung vor Ort verwies sie an das Freiberger Revier. Dieses wiederum forderte sie auf, für eine Anzeige auf die Wache zu kommen. Nach heftigem Widerspruch seien schließlich doch noch zwei Beamte erschienen – mehr als eine Stunde nach der Attacke. Auf den Wunsch der Reporter, den Übergriff anzuzeigen, auch wenn sie nicht verletzt waren, habe einer der Beamten mit Unverständnis reagiert, so Michel: „Man hat das Gefühl gehabt, dass der überhaupt nicht daran interessiert war. Das war eine Lappalie für die. Wir fühlten uns gar nicht ernst genommen.“ Erst nach Rücksprache mit den Kollegen vom Demo-Einsatz hätten die Beamten den Übergriff schließlich doch aufgenommen, so dass der Fall in die offizielle Statistik einfließen konnte.
Mark Michel hätte sich gewünscht, dass sofort gehandelt wird, um den Täter vor Ort zu stellen. Die zuständige Polizeidirektion Chemnitz bestätigt, dass der Vorfall im Einsatzprotokoll vermerkt ist. Der Zeitverzug bei der Anzeige sei dadurch zu erklären, dass mehrere Telefonate mit den Journalisten nötig waren, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Der schriftlichen Bitte der Polizei, im Nachhinein weitere Angaben zu machen, seien die Geschädigten dann nicht nachgekommen. Unverständnis auf allen Seiten. Der Fall zeigt vor allem eins: Was Angriffe auf die Pressefreiheit angeht, besteht dringender Klärungsbedarf.
Reporter ohne Grenzen: Mehr Angriffe
Der Verein Reporter ohne Grenzen hat im Jahr 2021 einen Anstieg von 65 auf 80 Angriffe gegen Journalistinnen und Journalisten registriert, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Aufgrund der Vielzahl pressefeindlicher Attacken bei Demos setzte sich Deutschlands Abwärtstrend in der internationalen Rangliste der Pressefreiheit fort, wo die Bundesrepublik aktuell nur noch Rang 16 belegt. Vor zwei Jahren war es noch Platz 11. Die Organisation hat zuletzt diverse Fälle massiver Gewalt gegen Journalisten dokumentiert. Allein bei der Querdenken-Demo in Kassel am 20. März 2021 sei es zu mehreren körperlichen Angriffen gekommen. So habe ein Teilnehmer einen Reporter mit der Faust ins Gesicht geschlagen, der daraufhin bewusstlos zu Boden ging und in die Notaufnahme eingeliefert werden musste. Ein Kollege erlitt einen Tinnitus, als ihm ein Demonstrant ein Megafon mit einem Sirenengeräusch ans Ohr hielt.
Die Mehrheit dieser Taten ereignen sich nach Angaben von Lotte Laloire, Sprecherin von Reporter ohne Grenzen, in einem rechten bis extrem rechten Kontext wie eben bei den Protesten gegen die Corona-Politik. Allein 52 der 80 registrierten Angriffe erfolgten bei Querdenken-Demos. „Die Gewalt ist politisch motiviert“, sagt Laloire. „Die Ablehnung der freien Presse bildet ein Kernelement extrem rechter Ideologie.“ Wichtig sei daher die konsequente Abgrenzung gegen rechts sowie eine größere gesellschaftliche Wertschätzung für die Arbeit der Presse. Zunehmend entlade sich die Pressefeindlichkeit in Teilen der Gesellschaft in Gewalt, Einschüchterungen und Hass. Dies belaste die Berichterstattung und damit auch den „demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess“, so Laloire.
Die Folgen bekommen alle zu spüren, die journalistische Medien nutzen, um sich ein genaues Bild von den Zuständen im Land zu verschaffen. Gerade auch bei Reizthemen wie der Corona-Politik, wenn sich Protest auf der Straße abspielt. Bei der täglichen Zeitungslektüre oder in den Fernsehnachrichten fehlen dann womöglich Augenzeugenberichte und Filmmaterial von Kundgebungen oder gewalttätigen Ausschreitungen, weil es für Reporterinnen und Reporter immer gefährlicher wird, bei einer Demo nah ans Geschehen ranzugehen. Verglichen mit Ländern wie Russland oder Türkei, wo Pressefreiheit repressiv vom Staat unterdrückt wird, ist die Lage in Deutschland zwar immer noch zufriedenstellend. Aber die Arbeitsbedingungen für Reporterinnen und Reporter haben sich hierzulande in den vergangenen Jahren rapide verschlechtert.
Mit Pegida kamen die Schmähungen – und Morddrohungen
Was zuletzt bei Querdenken-Demos eskalierte, ist der vorläufige Höhepunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung, die mit der Pegida-Bewegung in Dresden begann und mittlerweile bundesweit zu beobachten ist. Durch Pegida wurde nicht nur der Schmähruf „Lügenpresse“ populär; Beleidigungen und Bedrohungen gegen Reporterinnen und Reporter wurden normal. Neu war seinerzeit, dass Pressefeindlichkeit nicht mehr länger nur von erkennbaren Extremisten wie beispielsweise Neonazis ausging, sondern auch von radikalisierten, auf den ersten Blick eher unscheinbaren Normalbürgern. Seither ist die Lage weiter eskaliert. Schmähungen und Morddrohungen gibt es regelmäßig sowohl bei Demos auf deutschen Straßen als auch in den digitalen sozialen Netzwerken. „Wir kriegen dich“ heißt es etwa in einer anonymen E-Mail, oder einem „Tagesspiegel“-Redakteur wird von Demonstranten gedroht: „Wenn alles vorbei ist, wirst du an einem Baum hängen.“
Jörg Reichel hat als Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in Berlin-Brandenburg einen tiefen Einblick in das ganze Repertoire von Beleidigungen bis hin zu systematischen Kampagnen mit dem Ziel, journalistische Existenzen zu vernichten. Dann werden etwa in den sozialen Medien missliebige Personen von reichweitenstarken Nutzern namentlich genannt, woraufhin deren Anhänger massenhaft Hassmails bis hin zu Morddrohungen schicken. Reichel sind Fälle bekannt, wo Kolleginnen und Kollegen aufgrund der Bedrohungslage gezwungen waren, den Wohnort zu wechseln, andere mussten professionelle Hilfe von Psychotherapeuten in Anspruch nehmen.
Das ganze Ausmaß des Problems kann erahnen, wer die Erfahrungen auswertet, die Betroffene unter dem Hashtag #AusgebranntePresse öffentlich gemacht haben. Alexander Roth, leitender Redakteur beim Zeitungsverlag Waiblingen, schrieb auf Twitter: „Die regionale Querdenker-Szene hat meine Tweets zu #Ausgebrannte Presse entdeckt. Das Ergebnis: Feindmarkierung, Beleidigung, NS-Verharmlosungen, Diffamierungen, eine indirekte Morddrohung.“ Die Journalistin Sophia Maier, die für Formate des Magazins „Stern“ immer wieder auch von Demos berichtet, informierte darüber, was geschah, nachdem der Verschwörungsideologe Attila Hildmann ein Video von ihr gepostet hatte. Ein Anhänger habe kommentiert: „Nicht einmal ficken würde ich so eine Dreckshure man sollte ihr richtig ihre Fresse polieren.“ Frauen im Journalismus bekommen immer wieder auch sexualisierte Gewaltandrohungen und frauenverachtenden Hass zu spüren, der sie mundtot machen soll.
Bösartige Kommentare, Unterstellungen und Verschwörungslegenden
Besonderem Hass ist ausgesetzt, wer sich als prominente Stimme eines kritischen Journalismus etabliert und dafür von aggressiven Medienfeinden ins Visier genommen wird. NDR-Redakteurin Anja Reschke wurde massiv aus AfD-Kreisen angefeindet, „Monitor“-Chef Georg Restle wird regelmäßig auf Querdenken-Demos an den Pranger gestellt. Mitunter tragen Demonstranten dort Schilder, die Restle in Häftlingskleidung zeigen. Auch der langjährige NDR-Redakteur Patrick Gensing, der bei „Tagesschau-Faktenfinder“ kontinuierlich Fake News und Verschwörungserzählungen mit profunden Recherchen widerlegt hat, war bis zu seinem Ausscheiden bei dem ARD-Sender permanenten Anfeindungen ausgesetzt. „Zu meiner Person ist über Jahre hinweg ein ganzes Gebäude von Vorurteilen und Unterstellungen aufgebaut worden“, sagt Gensing. „Von einem rechtskonservativen Milieu wurde ich als der linksradikale Gensing hingestellt. Dieses Bild hat sich bei vielen Leuten verfestigt und wurde immer wieder in den sozialen Medien verbreitet.“ Bösartige Kommentare, Unterstellungen und seitenlange Verschwörungslegenden hätten ihn immer wieder in Wellen erreicht: „Eigentlich gab es fast täglich mindestens eine bösartige Mail, einen Brief oder eine Postkarte.“
Besonders schlimm sei es gewesen, wenn regelrechte Kampagnen gestartet wurden. „Reichweitenstarke Akteure wie der Blogger Boris Reitschuster oder Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen haben gezielt etwas gepostet, um mich zu markieren“, so Gensing. „Nach solchen Aktionen bricht die Hölle los, und es gibt eine Flut diffamierender Zuschriften. Die Wucht solcher Kampagnen geht eindeutig von solchen Personen aus, die Menschen, die sie zu Gegnern erklären, für ihre politische Agenda missbrauchen.“ Gensing war stark genug, damit umzugehen. Er sperrte Accounts und stellte Pöbler im digitalen Dialog. Das kostete allerdings viel Zeit und Kraft. „Leider sind Anzeigen oft sinnlos, weil bei Hasspostings zu oft eingestellt wird. Da heißt es dann etwa, Urheber seien nicht zu ermitteln. Ich habe entsprechende Inhalte angezeigt und dann monatelang nichts gehört“, sagt er. Es sei schon frustrierend, als Journalist selbst jede korrekte Formulierung sorgfältig abzuwägen, andererseits aber folgenlos herabgewürdigt werden zu dürfen, so Gensing.
Kein Einzelfall – vielmehr ein gutes Beispiel dafür, dass Strafverfolgung bei Hasspostings schneller und effizienter werden muss. „Inzwischen haben sich solche gezielten Angriffe leider als Instrument in der politischen Auseinandersetzung bewährt“, sagt Gensing. Er ist sicher, dass es als Folge dieser Entwicklung in vielen Redaktionen bereits eine Schere im Kopf gebe. So werde durchaus versucht, heikle Themen, die erwartbar heftige Reaktionen auslösen können, zu umschiffen. Etliche Medien schränken mittlerweile die Kommentar-Funktion unter Online-Artikeln ein, weil diese Foren bei Themen wie Migration, Klimawandel oder Impfen regelmäßig mit Hasskommentaren geflutet werden. Manchmal hilft dann nur noch Abschalten. Patrick Gensing hat nach fast 20 Jahren beim NDR mittlerweile den Journalismus verlassen und eine Stelle beim Fußballverein FC St. Pauli angenommen. Um in einem „konstruktiven gesellschaftlichen Umfeld“ positive Projekte auf den Weg zu bringen, wie er sagt.
Pressefeindliches Klima
Von Hass und Gewalt sind aber längst nicht nur exponierte Journalisten betroffen. Vielmehr bekommen bereits Berufseinsteiger das pressefeindliche Klima zu spüren, auch im Lokaljournalismus. Schon an einem ihrer ersten Arbeitstage bei „Leipzig Fernsehen“ (heute „Sachsen Fernsehen“) hat Franziska Jacob während ihrer Ausbildung erfahren, was sie künftig erwartet. Bei einer Straßenumfrage zu einem lokalen Verkehrsvorhaben riefen Störer immer wieder: „Lügenpresse, Lügenpresse!“ Mit Beginn der Pandemie sei dann aus alltäglicher Abfälligkeit offene Anfeindung geworden. Bei Interviewversuchen wurde sie gefragt, ob sie überhaupt noch ruhig schlafen könne als angebliche Fake-News-Produzentin. Nach einer Weile konnte sie das von Hassbotschaften angetriebene Gedankenkarussell abends nicht mehr abschalten.
Die Auszubildende hat als Reporterin auch jene Leipziger Querdenken-Demo im November 2020 erlebt, bei der rechte Hooligans eine Polizeikette durchbrachen, Journalisten angriffen und Flaschen nach ihnen warfen. Sie selbst wurde während der Dreharbeiten geschubst und angerempelt. „Da wurde mir schon angst und bange“, erinnert sie sich. Von Frauen wurde sie als „Fettarsch“ und „fette Sau“ beschimpft, die körperlichen Übergriffe gingen eher von Männern aus. Auch eine offene Morddrohung bekam sie zu hören: „Du wirst hängen!“ Später wurde dann neben ihr ein Fotograf zusammengeschlagen. Auf dieser Demo habe sie zum ersten Mal Panik verspürt.
Trotzdem war Franziska Jacob bei einer folgenden Demonstration wieder im Einsatz. Weil sie es wichtig findet zu zeigen, was ist. Dort musste sie mit ihrem Partner zunächst vor fliegenden Pflastersteinen weglaufen. Später wurde sie von einem gezielt geworfenen Schokoriegel im Gesicht getroffen. „Das mag lächerlich klingen, aber da klebte Spucke dran und das gefrorene Ding hat mich zwischen den Augen getroffen. Ich war erst mal angeknockt.“ Franziska Jacob hat Anzeige erstattet. Den Täter hatten sie gefilmt und der Polizei das Material zur Verfügung gestellt. Ermittelt wurde er trotzdem nicht, das Verfahren eingestellt. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Leipzig teilt auf Anfrage mit, dass der Täter trotz des zur Verfügung gestellten Bildes nicht identifiziert werden konnte.
„Verfahren eingestellt“
Obwohl sie im Rahmen ihrer Ausbildung derzeit im Marketing arbeitet, will Franziska Jacob unbedingt in eine Redaktion zurückkehren. „Journalismus ist ein ganz wichtiger Beruf“, sagt die Nachwuchsjournalistin. „Wir alle sind darauf angewiesen, Fakten zu bekommen.“ Von den bisherigen negativen Erfahrungen will sie sich nicht von ihrem Berufswunsch abschrecken lassen. Aber nach der erlittenen Verletzung auf der Demo sagt sie auch: „Da habe ich auch psychisch einen blauen Fleck davongetragen.“ Weder die Warnungen der Betroffenen noch die Forderungen von Verbänden nach besserem Schutz konnten die Lage bislang nachhaltig verbessern. Die eindringlichen Appelle sind weitgehend verpufft.
Nachdem sie der gefährlichen Entwicklung lange Zeit eher tatenlos zusahen und ihr gefährdetes Personal weitgehend sich selbst überließen, haben sich immerhin diverse Medienhäuser wie „Spiegel“, „Zeit“, „Süddeutsche“, dpa oder Funke-Mediengruppe zu einem gemeinsamen Schutzkodex verpflichtet. Damit sichern sie Mitarbeitenden psychologische Beratung, juristischen Beistand und auch finanzielle Unterstützung für Schutzmaßnahmen oder notwendige Wohnungswechsel zu. Damit ihr Personal nicht unvorbereitet ins kalte Wasser geworfen wird, so wie Franziska Jacob das bei ihrem Berufseinstieg erlebt hat, sollen Workshops und Fortbildungen über den Umgang mit Hass und Bedrohungen aufklären und auf kritische Situationen im Berufsalltag vorbereiten. Dieser Schritt war überfällig. Aber nicht nur die journalistischen Medienunternehmen stehen in der Pflicht.
Um aggressive Pressefeindlichkeit überhaupt wirkungsvoll bekämpfen zu können, muss man zunächst verstehen, was sich in den vergangenen Jahren verändert hat. Griffe in die Kamera, um Dreharbeiten zu verhindern, gab es auch früher immer mal wieder. Aber mittlerweile sollen beispielsweise bei Demos der verschwörungsideologischen Querdenken-Szene journalistische Filmaufnahmen möglichst ganz unterbunden werden. Veranstaltern und Teilnehmern etlicher Kundgebungen geht es nicht mehr darum, die größtmögliche Öffentlichkeit zu erreichen, sondern nur noch die eigene Blase, die von sympathisierenden Youtubern und Influencern auf deren Kanälen bedient wird. So ist eine Art Gegenöffentlichkeit entstanden. Beim Kampf um die Deutungshoheit über Proteste und Kundgebungen ist unabhängiger Journalismus mittlerweile ein zementiertes Feindbild.
In diesem zunehmend konfliktträchtigen Umfeld setzen die Versammlungs- und Polizeibehörden bislang eine eindeutige Priorität. Sie garantieren auch in dynamischen Lagen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit – regelmäßig zu Lasten der ebenfalls, nämlich in Artikel 5, grundgesetzlich geschützten freien Berichterstattung. In der Praxis wählten Beamte in brenzligen Situationen zu oft den bequemen Weg und sprächen Platzverweise gegen Journalisten aus, sagt Jörg Reichel von der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju): „Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit gehören aber zusammen. Beides muss von der Polizei geschützt und gewährleistet werden.“ Weil zu oft einseitig nur das Recht zu demonstrieren durchgesetzt wird, werden Reporterinnen und Reporter von der Polizei immer wieder wie Störer behandelt. Nach dem Motto: Würdet ihr nicht filmen, bliebe es friedlich. Die entscheidende Frage lautet jedoch: Wie friedlich ist eine Demo, die freie Berichterstattung aggressiv behindert?
Die Aufgaben der Polizei
Der Vize-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, hat darauf hingewiesen, dass etwa bei Querdenken-Versammlungen permanent Provokationen durch Demonstranten erfolgen. Das erfordere von den eingesetzten Beamten ein hohes Maß an Konzentration. Da könne es durchaus vorkommen, dass journalistische Berichterstattung als Belastung empfunden werde.
Der Polizeigewerkschafter sieht vor allem die Versammlungsbehörden, die für den friedlichen Verlauf von Demonstrationen verantwortlich sind, in der Pflicht zu handeln. Diese müssten vorab Auflagen für eine Kundgebung so formulieren, dass freie Berichterstattung explizit garantiert wird. Halten sich die Demonstranten nicht daran, müsse die Versammlung notfalls aufgelöst werden. Solange das in der Praxis aber nicht erfolgt, sind weitere Konflikte vorprogrammiert.
Eigentlich regeln gemeinsame Verhaltensgrundsätze den Umgang von Presse und Polizei bei Demos, vereinbart von der Innenministerkonferenz, dem Deutschen Presserat und den Berufsverbänden. Demnach verpflichten sich beide nicht nur, die Arbeit der jeweils anderen Seite nicht zu behindern. Vielmehr verpflichtet sich die Polizei sogar, die Medien bei der Informationsbeschaffung zu unterstützen. Doch die Vereinbarung aus dem Jahr 1993 stammt aus der vordigitalen Zeit und ist veraltet. Offenkundig ist auch die Pflicht, Pressearbeit zu schützen und zu gewährleisten, nicht präzise genug formuliert. Der Deutsche Presserat hat der Innenministerkonferenz daher bereits vor mehr als anderthalb Jahren einen konkreten Vorschlag zur Überarbeitung der Verhaltensgrundsätze vorgelegt. Bisher ohne Ergebnis. In einem Hintergrundgespräch des Autors mit einem Landes-Innenminister räumt dieser ein, dass bisher noch immer keine konkrete Reform erarbeitet worden ist.
Während es die Länder also bislang unterlassen haben, einen effektiveren Schutz der Pressefreiheit verbindlich zu vereinbaren, haben Betroffene und Berufsverbände immerhin einen besseren Dialog zwischen Presse und Polizei erreicht. Reichel spricht von einem größeren Verständnis, das gewachsen sei. Die Polizei habe durchaus verstanden, dass es ein ernstes Problem gibt. Aber das reiche nicht aus: „Ich halte eine Selbstverpflichtung der Polizeibehörden für sinnvoll, den Schutz der Pressefreiheit noch stärker zum Gegenstand der polizeilichen Praxis zu machen.“ Es gehe ja nicht darum, Medienleute permanent zu bewachen, sondern ein Auge auf brenzlige Situationen zu haben und notfalls einzugreifen, wenn in die Kamera gegriffen oder geschlagen wird. Immer wieder berichten Reporterinnen und Reporter, dass Einsatzkräfte bei solchen Übergriffen tatenlos zusehen. „Das Ideal ist ein aufmerksames Begleiten auf Sicht, das es erlaubt, bei Angriffen schnell einzugreifen. Das muss systematisiert und bundesweit zum Standard werden“, fordert Reichel. Ohne ein solches niedrigschwelliges Eingreifen durch die Polizei ist dem Problem aggressiver Pressefeindlichkeit nicht beizukommen.
Dafür brauche es eine angemessene Zahl von Einsatzkräften, die „explizit mit dem Schutz von Berichterstattenden beauftragt werden“, ergänzt Lotte Laloire von Reporter ohne Grenzen. In einigen Städten werde das bereits praktiziert. Der Hinweis auf fehlendes Personal überzeuge hingegen nicht, so die Journalistin, „da wir zahlreiche Angriffe dokumentiert haben, bei denen die Polizei in großer Zahl vor Ort war, die Presse aber trotzdem nicht effektiv geschützt, sondern teils sogar von der Polizei selbst angegriffen oder behindert wurde“. Zwölf der 80 von Reporter ohne Grenzen registrierten Angriffe auf Presseleute erfolgten demnach im vergangenen Jahr durch die Polizei. Auch dieses Tabuthema gilt es anzugehen. Laloire fordert bei den Sicherheitsbehörden eine „wirkungsvolle Sensibilisierung“ für das Thema Pressefreiheit und berufsbegleitende Fortbildungen gerade auch für Einsatzgruppen. Zudem müssten die Angriffe auf Presseleute durch die Polizei entschlossen aufgeklärt werden – mit allen notwendigen straf- und dienstrechtlichen Konsequenzen.
Die Eskalationsspirale der vergangenen Jahre zeigt deutlich, dass regionale Gesprächsrunden für ein besseres gegenseitiges Verständnis von Medien und Polizei nicht mehr ausreichen. „Beim Schutz der Pressefreiheit bleibt es zu oft bei Lippenbekenntnissen“, sagt Jörg Reichel. „Stattdessen braucht es das klare politische Signal, die Praxis zu verändern. Das ist zuallererst keine Frage des Geldes, sondern des politischen Willens. Leider hat das, man muss es so deutlich sagen, bisher keine Priorität.“ Die Politik muss handeln. Es braucht konkrete Vorgaben, die jederzeit und überall gelten. Als Vorbild nennt Reichel ausdrücklich Berlin. Da wurde der Schutz der freien Berichterstattung kürzlich im Versammlungsfreiheitsgesetz festgeschrieben. Damit hat die Berliner Polizei nicht mehr nur die Vorgabe, die Versammlungsfreiheit von Demonstrierenden zu schützen, sondern auch das Recht auf freie Berichterstattung von Reporterinnen und Reportern.
Reichel berichtet von einer linken Pro-Palästina-Demo in Berlin: „Wie so oft haben Demonstranten versucht, die Polizei gegen die Presse zu instrumentalisieren.“ Sie forderten die Einsatzkräfte dazu auf, die missliebigen Journalisten zu entfernen. „Aber die Polizei hat sich stattdessen schützend dazwischengestellt und Übergriffe verhindert“, berichtet Reichel. Es geht also. Wenn es eindeutige Vorgaben und den festen Willen gibt, diese dann auch umzusetzen. Jörg Reichel lässt keinen Zweifel daran, wie notwendig das ist. Angesichts der zunehmend enthemmten Gewalt warnt er vor davor, dass Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten tödlich enden könnten: „Einige Betroffene haben einfach nur Glück gehabt.“
Michael Kraske
Das fordert der WEISSE RING:
Die Gesetzgeber müssen die Vorgaben zum Schutz der Presse im Versammlungsrecht eindeutig festschreiben. Angriffe auf Reporterinnen und Reporter sowie Behinderungen von deren Arbeit müssen von der Polizei konsequent und flächendeckend unterbunden werden. Dafür sind klare gesetzliche Vorgaben in Landesgesetzen notwendig, um beim Versammlungsrecht die Pflicht zum Schutz der Presse festzuschreiben, so wie es bereits in Berlin der Fall ist.
Diese Texte könnten Sie auch interessieren:
➡ Wie Medien nach Gewalttaten berichten: „Egal, ob sich das gut verkauft. So was tut man nicht.“
➡ Medien nach dem Anschlag in Halle: „Das war eine zusätzliche Belastung“
➡ Justiz und Medien: „Die Opfer sind so viel interessanter als die Täter!“
➡ Der Hass und das Recht