Ein Amoklauf. Diesmal in Heidelberg. Tod, Leid, Entsetzen. Ein 18-Jähriger, der in einem Tutorium an der Uni Heidelberg um sich schießt. Eine 23-Jährige, die später ihren Verletzungen erliegt. Drei verletzte Studierende. Der Täter hat sich danach selbst erschossen. Das sind die ebenso nüchternen wie furchtbaren Fakten. Wie immer nach solchen Ereignissen dauerte es am 24. Januar nicht lange, bis in Heidelberg die Medien vor Ort waren. Etliche begannen live zu berichten.
Journalisten heizen „Gerüchteküche“ an
Das ZDF hatte einen Reporter geschickt, der verschiedene Formate des Senders beliefern sollte. Vor Ort führte er ein Interview mit einem Polizeisprecher und heizte dabei selbst die von ihm angesprochene „Gerüchteküche“ an: „Es war die Rede von mehreren Waffen, es war zwischendurch auch mal die Rede von mehreren Tätern.“ Der Reporter fragte hartnäckig nach Details des tödlichen Angriffs, wollte wissen, ob der Täter „sofort gezielt oder wild um sich geschossen“ habe. Auch nachdem der Polizeisprecher bereits einen zweiten Täter definitiv ausgeschlossen hatte, setzte der Reporter nach: „Sie gehen also von einer großen Gefahrenlage aus.“ Während der Reporter vor Ort spektakulären Aussagen nachjagte, bohrte der Studiomoderator während der Live-Schalte nach Emotionen: „Auf der anderen Seite hast du jetzt auch keine Studenten gesehen oder Studentinnen, die da sitzen, weinend oder irgendwie um Fassung ringend. Ich versuche gerade irgendwie ein bisschen die Atmosphäre vor Ort zu erfragen.“ Während in den sozialen Medien wie in solchen Fällen üblich Gerüchte und Info-Schnipsel kursierten, beteiligten sich die Öffentlich-Rechtlichen an der Jagd nach Emotionen und Sensation.
Auf Nachfrage teilt ein ZDF-Sprecher mit, der Livestream des Formats „ZDFheute live“ sei in der Redaktion kritisch nachbereitet worden. Zwar sei es durchaus gelungen, den aktuellen Informationsstand „aus erster Hand und direkt vom Ort des Geschehens“ zu vermitteln. „Jedoch waren nicht alle Fragen ausreichend begründet und mit dem Kenntnisstand des Kollegen vor Ort beantwortbar.“ Der Livestream hätte „tatsächlich früher beendet werden sollen.“ Seltene Selbstkritik. Immerhin.
Auf der Suche nach dem Spin
Peter Abelmann ist Vorsitzender der Studierendenschaft an der Uni Heidelberg. Nach dem Amoklauf hat er unmittelbar Betroffene zunächst vor Presseanfragen abgeschirmt, um sie zu schützen. „Ganz am Anfang begegnete uns ein überbordender, fast schon aggressiver Journalismus“, sagt Abelmann. In den ersten zwei, drei Tagen nach der Tat habe es eine „Überberichterstattung“ gegeben. Der nachrichtliche Kern war da bereits ausführlich erzählt. Doch alle seien „auf der Suche nach dem Spin“ gewesen, um die Geschichte weiterzudrehen.
Die Forschung bezeichnet Amokläufe wie den von Heidelberg als „hochexpressive Gewalttaten“. Die medialen Mechanismen seien danach immer die gleichen, analysiert Medienwissenschaftler Klaus Beck von der Uni Greifswald: „Es gibt einen Wettbewerb um Aktualität zwischen den Medien. Verschärft wird das dadurch, dass mittlerweile jeder mit dem Smartphone live streamen kann. Dieser verschärfte Druck befördert die Haltung: Hauptsache schnell, Hauptsache aktuell.“ Der forcierte Wettbewerb erhöhe die Gefahr, dass auch die klassischen Medien ihre Standards schleifen lassen, so Beck. Viele Medien brauchten zudem bewegte Bilder, auch wenn sie noch so bedeutungslos seien. Immer wieder geht das zulasten von Qualitätskriterien wie Wahrheitsprüfung, Sorgfaltspflicht, Opferschutz und Gegen-Recherche.
Absurde Live-Interviews
Die Jagd nach Sendematerial führt bisweilen zu absurden Ergebnissen. So befragte der „Welt“-Nachrichtensender am Tag des Amoklaufs in einer Live-Schalte eine Ärztin aus dem Uni-Klinikum Heidelberg. Immer wieder fragte der Moderator nach Details, von denen seine Gesprächspartnerin überhaupt keine Kenntnis hatte. Was sie denn über den Verlauf des Anschlags wisse. „Gar nichts“, so die Antwort. Auch zu den Verletzten konnte sie nichts sagen, weil diese nicht in ihrer Abteilung versorgt wurden. Offenbar musste der Welt-Moderator aber unbedingt Sendezeit mit dem Live-Interview füllen, also fragte er abseitige Informationen über die Größe des Klinikums ab. Als das alles ohne Erkenntnisgewinn blieb, mutmaßte er am Ende, an einen normalen Arbeitsalltag sei in der Klinik ja wohl nicht mehr zu denken. „Na ja, doch“, entgegnete die Ärztin. „Weil, wir haben ja Patienten zu versorgen.“ Das Interview ist eher eine pseudojournalistische Simulation als seriöse Berichterstattung. Live-Broadcasting, vor allem digitales Streaming, verschärfe den problematischen Zwang zum Bild noch zusätzlich, analysiert Professor Beck.
Berichterstattung kann Betroffenen schaden
Die Medienforscher Robert Kahr und Frank J. Robertz haben die „mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus“ untersucht. Die Autoren warnen Redaktionen eindringlich davor, den Tathergang allzu anschaulich darzustellen oder gar Täterfantasien wiederzugeben. Zudem mahnen sie eine sensible Wortwahl an, um symbolträchtige Formulierungen zu vermeiden, die eine Identifikation mit dem Täter ermöglichen. Andernfalls bestehe die Gefahr, Nachahmungstätern Vorschub zu leisten. Für die Betroffenen solcher Anschläge bestehe zudem die Gefahr der sogenannten sekundären Viktimisierung, dass sie also erneut zum Opfer gemacht werden, so Medienforscher Beck: „Weil digitales Material ja mittlerweile zeitlich unbegrenzt verfügbar ist.“ Er warnt zudem vor einem „Verängstigungs-Effekt“ durch maßlose Berichterstattung über massive Gewalttaten. Bei Mediennutzern könne sonst der Eindruck entstehen, dass an jeder Ecke große Gefahr lauert. Das wiederum könne in der Gesellschaft illiberale Tendenzen verstärken. Nach dem Motto: Wir brauchen mehr Überwachung. Expressive Gewalttaten bedeuten für Journalistinnen und Journalisten also enorme Verantwortung unter maximalem Zeit- und Konkurrenzdruck. Wie gehen sie damit um?
Kerzen am Gebäude der Neuen Universität. (Foto: Uwe Anspach/dpa)
Peter Abelmann hat nach dem Amoklauf ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. „Anfangs war das Interesse der Medien sehr funktional“, erinnert sich der Studierendenvertreter. Gesucht wurden Augenzeugen für die bei vielen Redaktionen beliebten minutiösen Tat-Rekonstruktionen. Immer wieder wurde Abelmann gefragt: Kannten Sie den Täter persönlich? „Was deutlich zu spüren war: Vielen ging es um das Prinzip: Who’s the closest? Je näher man als Medium rankommt, umso besser.“ In dieser ersten Welle der Berichterstattung hätten „die Journalisten total versagt“. Lokalredaktionen hätten krampfhaft versucht, Regionalbezüge herzustellen. Einzelne Reporter seien anfangs sehr aggressiv aufgetreten und Betroffenen sogar zu Trauerorten gefolgt. Erst nach einigen Tagen, als andere schon wieder weg waren, stachen die besonnenen, gründlichen Medienleute heraus: „Positiv aufgefallen ist mir die ,Zeit‘-Reporterin.“ Die habe sich vier Tage Zeit genommen und viele unterschiedliche Perspektiven in ihren Bericht einbezogen. „Alle, die sich äußerten, sind ja keine Medienprofis“, sagt Abelmann. „Umso wichtiger war es, ihnen rücksichtsvoll und ohne Zeitdruck zu begegnen.“
Medienansturm nach Terroranschlag in Halle
Viele der medialen Muster von Heidelberg lassen sich auch bei dem rechten Terroranschlag von Halle an der Saale beobachten. Allerdings war das Geschehen dort hochkomplex, mit mehreren Tatorten, verschiedenen Opfergruppen und etwa 150 Betroffenen. Allein den Anschlag treffend zu benennen, ist eine journalistische Herausforderung. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein junger Mann aus Sachsen-Anhalt, in die Synagoge in Halle einzudringen, um dort aus antisemitischen Motiven einen Massenmord an Jüdinnen und Juden zu begehen, die dort Jom Kippur feierten, den höchsten jüdischen Feiertag. Seine Taten übertrug er via Livestream. Als das Massaker misslang, tötete er Jana, eine Passantin, und hielt danach aus rassistischen Motiven am „Kiez-Döner“, wo er Kevin, einen Besucher des Lokals, erschoss. Auf der anschließenden Flucht verletzte der Täter, angetrieben von menschenfeindlichen Motiven, weitere Menschen. Die Medien standen vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur den komplexen Terroranschlag präzise zu beschreiben, sondern Betroffene angemessen zu Wort kommen zu lassen und die rechtsextreme Ideologie des Täters auszuleuchten: Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus, Sozialdarwinismus.
Unmittelbar nach dem Terroranschlag von Halle kamen die Medienleute. Aus den USA und Israel, aus Frankreich und der Türkei. Übertragungswagen, Kamerateams, Schreibende. „Anfangs habe ich versucht, jedem Journalisten etwas zu geben“, erinnert sich der Überlebende Ismet Tekin, der damals mit seinem Bruder beim „Kiez-Döner“ angestellt war. „Aber in den ersten ein, zwei Tagen war es einfach zu viel.“ Obwohl die meisten, die ihn um ein Interview baten, durchaus rücksichtsvoll auftraten. Auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Max Privorozki, empfand dieses geballte Medieninteresse nach dem Angriff auf die Synagoge, den er überlebt hatte, als „zusätzliche Belastung“. Schließlich seien ja nicht nur Journalisten gekommen, sondern auch wichtige Politiker wie Ministerpräsident Haseloff und Bundespräsident Steinmeier.
„Egal, ob sich das gut verkauft. So was tut man nicht.“
Antje Arndt von der Mobilen Opferberatung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Halle hat von Anfang an Hilfsangebote für Betroffene des Anschlags organisiert. Das Team und dessen Trägerverein „Miteinander“ verfügen über langjährige Erfahrungen. Im deutschen Osten sind diese Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt oftmals die wichtigsten Ansprechpartner, Begleiter und Unterstützer für Betroffene von Rassismus und Antisemitismus. Die Medien hat Antje Arndt nach dem Terroranschlag zunächst als Störfaktor ihrer Arbeitsabläufe wahrgenommen: „Wir wollten unsere Beratungsarbeit machen, und ständig waren Medien und Politiker vor uns da und haben mit Betroffenen gesprochen, was die in der Situation ja auch schlecht ablehnen konnten.“
In der sensiblen Phase unmittelbar nach einem Anschlag kommt es immer wieder zu journalistischen Grenzverletzungen. „Als die Überlebenden aus der Synagoge evakuiert wurden, haben Kamerateams diese Menschen, darunter auch Kinder in dem Bus, abgefilmt“, erinnert sich Arndt. „Das geht nicht. Egal, ob sich das gut verkauft. So was tut man nicht.“ Aus den Tagen nach der Tat sind ihr RTL, „BILD“, aber auch das ARD-„Mittagsmagazin“ in schlechter Erinnerung geblieben. Formate, die schnelle Bilder brauchen, nicht in die Tiefe gehen und deren Geschäftsmodell auf starken Emotionen beruht. Die Opferberaterin formuliert konkrete Forderungen: Für Reporter sollten nach derartigen Taten die gleichen Grundregeln gelten wie für Polizeibeamtinnen, Sozialarbeiter und Politikerinnen. „Nämlich die Selbstbestimmung und die Kontrolle über die Geschichte der Betroffenen zu respektieren.“ Massive Gewalttaten lösten überwältigende Ohnmachtsgefühle, Hilflosigkeit und Kontrollverlust aus: „Um das bei traumatisierten Menschen nicht zu triggern, ist es wichtig, die Betroffenen als Subjekte zu behandeln und nicht als Objekte für Sensationsgier oder Informationsgewinn.“ Arndt sah ihre Aufgabe im Verlauf der Betreuung darin, Betroffenen nicht per se von Interviews abzuraten, sondern aufzuzeigen, welche Folgen sich aus der Bereitschaft, in die Öffentlichkeit zu treten, ergeben können.
Der Faktor Zeit
Wer mit Betroffenen des Terroranschlags über ihre Medienerfahrungen spricht, stößt im Laufe des Gesprächs auf den Faktor Zeit. Guter Journalismus muss sich nach solchen Taten einerseits von der Eile, andererseits von der branchenüblichen Schnelllebigkeit lossagen. Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, erinnert sich an eine Reporterin vom MDR, die in der Zeit zwischen dem Terroranschlag und dem Prozess kam und einige Tage mit ihm verbracht hat: „Sie kam ins Büro, begleitete mich in die Synagoge und zu Gesprächen. Daraus wurde dann auch eine gute Reportage.“ Auch Opferberaterin Arndt bezeichnet die Arbeit des MDR in diesem Fall als vorbildlich, weil es für die Betroffenen wenige feste Ansprechpartner gab, die immer wieder nachfragten, auch wenn gerade kein Jahrestag anstand. Und sie lobt die Arbeit der Journalistin Pia Stendera, die ebenfalls an dem Thema dranblieb. Die Empathie für Betroffene gezeigt und für die „taz“ sensible Porträts und Reportagen geschrieben habe.
So gewaltig die Medienaufmerksamkeit unmittelbar nach einem Anschlag zunächst ist, so schnell verlieren Redaktionen und die Öffentlichkeit danach auch wieder das Interesse. Weil neue Nachrichten das Entsetzen überlagern. In Halle ist ein langer journalistischer Atem indes nicht nur wichtig, damit der rechte Terror nicht in Vergessenheit gerät, sondern auch, damit die Perspektiven der Betroffenen und ihre Forderungen an Politik und Gesellschaft wahrgenommen werden. Max Privorozki sagt, er sei aus zwei Gründen als Nebenkläger beim Prozess aufgetreten. Erstens habe er verstehen wollen, wann aus Antisemitismus und Hass wirklich Taten werden. „Die Antwort auf diese Frage habe ich im Prozess nicht bekommen.“ Zweitens ist er davon überzeugt: „Die Quelle für den Hass lag in der Familie.“ Sowohl die Medien als auch die Justiz seien dagegen zu dem Schluss gekommen, „dass die Hauptschuld am Anschlag das Internet trägt“. Tatsächlich blieb die Familie des Täters in der Berichterstattung ein Randaspekt, während viele Medien ausführlich die Rolle digitaler Spielewelten thematisierten. Antje Arndt von der Mobilen Opferberatung kritisiert jene Medien, die das Bild eines isolierten Einzeltäters zeichneten, der sich abgeschottet in den eigenen vier Wänden radikalisiert habe: „Wichtig ist die Erkenntnis: Sowohl die Familie als auch die Internetwelt sind ein sozialer Raum.“ Das sei nicht deutlich genug herausgearbeitet worden.
Nicht den Namen des Täters nennen
Gerade bei Terroranschlägen ist der Journalismus nicht nur als Faktenlieferant aufgrund seiner Chronistenpflicht gefragt. Ebenso wichtig ist die Einordnung der Tat. Darüber hinaus gilt es, Ursachen und Folgen aufzuzeigen und keinesfalls die Inszenierungen des Terroristen zu verbreiten. In der Berichterstattung über Halle ist es immerhin gelungen, den Namen des Täters weitgehend außen vor zu lassen. Betroffene hatten darum in einer gemeinsamen Erklärung an die Medien ausdrücklich gebeten. Denn in der Vergangenheit wurden Rechtsterroristen mit ihren menschenfeindlichen
Fantasien und Pamphleten, die medial gern als „Manifeste“ überhöht werden, so ausführlich reproduziert, dass sie in diversen rechtsradikalen Milieus umso leichter einen Kultstatus erlangen konnten. In Halle gab es da einen Lernprozess. Längst nicht alle Medienleute ließen sich überzeugen, aber viele folgten dem Wunsch der Betroffenen, verzichteten auf den Namen des Täters und verweigerten ihm damit, was er so sehr wollte: Aufmerksamkeit und Popularität. Andererseits haben Überlebende, die beim Prozess als Nebenkläger auftraten, immer wieder beklagt, dass sie vorab nicht gefragt wurden, ob und wie ihr Name in einem Bericht auftauchen soll.
So heikel journalistische Arbeit nach einem mörderischen Terroranschlag auch ist – so unverzichtbar ist sie anderseits. „Dass der Angriff auf die Synagoge überhaupt als versuchter Mord angeklagt wurde, hatte auch damit zu tun, dass das von Anfang an so stark öffentlich thematisiert wurde“, sagt Antje Arndt. Eine wichtige Funktion der Medien sei zudem, Kritik an politischen Entscheidungen darzustellen und gesellschaftlichen Druck aufzubauen: „Gerade Betroffene von rechter Gewalt brauchen die Medien, weil sie nicht darauf vertrauen können, dass ihre Anliegen in jedem Fall von Staatsanwaltschaften und Gerichten berücksichtigt und anerkannt werden.“ So war es auch bei Ismet Tekin, dem ehemaligen Angestellten des „Kiez-Döners“, der auf der Straße vor den Schüssen des Täters in Deckung ging und vom Gericht anfangs trotzdem nicht als Nebenkläger zugelassen werden sollte.
„Die haben uns allein gelassen.“
Ismet Tekin sitzt an einem Tisch jenes Lokals, das früher der „Kiez-Döner“ war, und trinkt Tee. Nach dem Anschlag hat der Eigentümer den Laden an Ismet und seinen Bruder verschenkt. In den ersten Wochen habe es viel Solidarität und Beistand gegeben. Wichtige Leute von Stadt und Land hätten Unterstützung zugesagt. „Leider war das eine große Enttäuschung“, sagt Tekin. „Die haben uns allein gelassen.“ Bei der Begrüßung des Reporters ist der stilvoll renovierte Laden leer. Wie so oft. Frühere Stammkunden, die Tekin auf der Straße trifft, sagen ihm, dass sie ja eigentlich gern kommen würden. Aber dass sie sich nicht trauen. „Das hier ist ein Anschlagsort“, sagt Tekin. Er habe sich mehr Hilfe von denen erwartet, die ihm große Versprechungen gemacht haben.
Immer wieder erzählt der Gastronom Journalistinnen und Journalisten seine Geschichte und informiert sie über Neuigkeiten. Sie haben ihn begleitet, als er vor Gericht erkämpfte, schließlich doch als Nebenklagevertreter anerkannt zu werden. „Der Generalbundesanwalt war der Ansicht, dass der Täter mich nicht töten wollte“, sagt Tekin. „Das war der schwerste Moment für mich.“ Ohne die Medien würden seine Kämpfe unsichtbar bleiben. Tekin trifft sich regelmäßig mit anderen Betroffenen, er hat die Hinterbliebenen des Terroranschlags von Hanau besucht. Alle machen ähnliche Erfahrungen, berichtet Tekin. Sie werden nicht müde, die mörderische Wirkung von Rassismus anzuprangern: „Man hört unsere Probleme an, aber keiner tut was.“
Leben nach dem Anschlag
Rassismus schade letztlich allen in der Gesellschaft, so Tekin. Daran sollten Journalisten immer wieder erinnern: „Mir ist wichtig zu sagen, dass es eine Gefahr für uns alle gibt. Es betrifft nicht nur Ausländer. Jana und Kevin waren Deutsche. Es kann jeden treffen.“ Nach dem Terroranschlag hätten viele Politiker gesagt: Zusammen sind wir stark. Wenn das ernst gemeint sei, müsse man auch gemeinsam handeln: „Aber wir sehen keine Schritte.“ Für die allermeisten geht das Leben nach dem Anschlag in Halle einfach weiter. Für Ismet Tekin nicht. Er will, dass sich gesellschaftlich wirklich etwas ändert, damit sich ein Anschlag wie der von Halle nicht wiederholen kann. Das treibt ihn um. „Es ist nicht vorbei“, sagt Ismet Tekin. „Es wird nicht vorbei sein.“
Michael Kraske