Ein Schönschreiber war Gosbert Müller, jemand, der auch im digitalen Zeitalter noch handgeschriebene Postkarten verschickte, dem Geschriebenen Wert und dem Adressaten oder der Adressatin Wertschätzung beimaß. Mit dem Stift in der Hand hielt er den persönlichen Kontakt zum WEISSEN RING aufrecht, auch lange nach seiner Amtszeit als Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbandes.
Es ist leicht vorstellbar, wie Müller, Jahrgang 1934, schreibend am Tisch sitzt, jemand, der als unaufgeregt, besonnen und herzlich beschrieben wird. Es fügt sich ein Bild zusammen, in das seine altertümlich anmutende, aber „unnachahmlich schöne Schrift“ passt, wie es Hartmut Grasmück formuliert, der aktuelle Landesvorsitzende.
Der gebürtige Würzburger Müller – den unterfränkischen Spracheinschlag legte er nie ganz ab – machte zunächst einen Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt, 1952 ging er zur Polizei. Dort arbeitete er sich bis zum Landeskriminaldirektor hoch, brachte sich ein unter anderem in die Entwicklung der Landes-Nachhaltigkeitsstrategie und in der Fachkommission Zwangsheirat. Auf einem Trauerportal gibt es einen Kommentar, in dem Müller charakterisiert wird als jemand, „der immer ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter hatte und auch half, wo immer es ihm möglich war.“ Diese familiäre Nahbarkeit und Hilfsbereitschaft im Beruf zeigte er ebenso im WEISSEN RING, wo sie ihm den wertschätzenden Spitznamen „Papa Müller“ einbrachten.
Nach seiner Pensionierung baute Müller die Kooperation zwischen Verein und Polizei aus. 15 Jahre lang, von 1994 bis 2009, stand er an der Spitze des Verbands in seinem Bundesland. Müller brachte aus dem Arbeitsleben Sachkompetenz und Opferempathie mit, investierte wohl etwa die Hälfte seiner Zeit in das Ehrenamt auf Landes- und Bundesebene, wo er sich an wichtigen Weichenstellungen beteiligte. Parallel war er 2001 Gründungsmitglied und bis 2010 stellvertretender Vorsitzender der Landesstiftung Opferschutz.
Neben der Professionalität spielten stets Humor und Geselligkeit eine Rolle bei „Papa Müller“. Er war jemand, mit dem man, traf man ihn zufällig in Stuttgart, spontan in die Kneipe gehen wollte und konnte. Jemand, der nach Seminaren im Papiermacherzentrum in Gernsbach mit allen Ehrenamtlichen beim badischen Vesper im Billardzimmer saß, Witze machte und regelmäßig zu den Letzten am Tisch gehörte. Auch Fotos von netten langen gemeinsamen Abenden gibt es, so ist zu hören.
Gosbert Müller verstand es auch, die Zeichen der Zeit zu lesen. Ein Schönredner war er jedoch nicht. „Ab einem gewissen Alter muss man auch loslassen und das Erreichte in jüngere Hände geben können“, sagte er 75-jährig, als er sich vor 15 Jahren von der Landesspitze und den Abenden im Billardzimmer zurückzog.
Der Einsatz für Kriminalitätsopfer blieb indes nicht ungesehen: Bereits 1994 erhielt Müller das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2010 dann die höchste Auszeichnung für Bürger in Baden-Württemberg, den Verdienstorden. Der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus würdigte Müllers Engagement mit den Worten, er sei vielen Menschen zum Vorbild geworden.
Ein Vorbild vielleicht auch für diejenigen, die heute geschwind mit ihren Fingerspitzen über Tastaturen fliegen und über Smartphones wischen. Man mag innehalten und sich fragen: Für wen möchte man den Stift in die Hand nehmen und sorgfältig überlegte Worte notieren? Wer benötigt gerade Aufmerksamkeit und Zuwendung? So, wie es der Schönschreiber Gosbert Müller getan hat.
Er wurde 90 Jahre alt und starb am 2. August 2024.
Nina Lenhardt