Wie stellt man sich jemanden vor, der täglich mit dem konfrontiert wird, was Menschen anderen Menschen antun? Müsste das nicht jemand sein, dem das Leid in Furchen ins Gesicht geschrieben steht? Mindestens aber müsste diese Person ausschließlich ernst auftreten, schon damit niemand an ihrer Ernsthaftigkeit zweifelt. Wie auch immer man sich einen solchen Menschen vorstellt, wie Helen Bonert jedenfalls nicht.
Die Leiterin der Außenstelle Rhein-Sieg sagt nicht nur „Rhein-Siech“ und „sacht“, was gleich für ordentlich Bodenständigkeit sorgt. Die 70-Jährige kann auch kichern wie ein Mädchen. Das aber irritiert nur im ersten Moment. Wer sich die bedrückenden Geschichten anderer anhört, muss selbst stabil sein. Humor ist da nicht nur eine Abwehrkraft, sondern so etwas wie der höchste Ausweis von Stabilität. Wer mit Bonert nur fünf Minuten spricht, begreift: Die ist unverwüstlich. Fels in der Brandung. Schon äußerlich. „Mit den Leuten heulen bringt gar nichts“, sagt sie. „Empathie ja, Mitleid nein.“
Seit 14 Jahren nimmt sie nun schon die Anrufe von Opfern in ihrer kleinen Mietwohnung am Stadtrand von Siegburg entgegen. „Wir sind die Ersten, die zuhören. Die kommen mit wahnsinnigen Problemen, wissen nicht genau, was sie erzählen sollen. Da will ich zeigen: Wir helfen dir weiter, wir sind für dich da.“ Dann überlegt sie, welche Mitarbeiterin sie schickt. In Corona-Zeiten fallen die sonst üblichen Hausbesuche allerdings flach. Mord übernimmt sie selbst. „Weil ein Riesenaufwand an Papierkram dranhängt. Das will ich den Mitarbeitern nicht zumuten.“
„Ein dummes Brot auf vier Füßen“
Da gab es zum Beispiel den erstochenen Taxifahrer, der nie viel verdient hatte. Die Witwe konnte sich nicht mal ein schwarzes Kleid für die Beerdigung leisten. Da sprang Bonert mit 300 Euro Soforthilfe ein. Sie half auch beim Antrag auf Bestattungsgeld, denn der Staat zahlt genau 1.710 Euro für die Beerdigung von Mordopfern. Weil aber eine Beerdigung „mit allem Pipapo, Kaffee und Kuchen, Trauerkarten, Sarg“ ungefähr 5.000 Euro kostete, sorgte Bonert dafür, dass der WEISSE RING den Rest übernahm.
Im vergangenen Jahr hatte sie einen Fall von sexuellem Missbrauch, eine Jugendliche war von einem Jungen vergewaltigt worden. Danach versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Die Mutter schenkte ihr noch während des Aufenthalts in der Psychiatrie einen Doggenwelpen. Nun wird der Hund auch dank Bonerts Hilfe zum PTBS-Hund ausgebildet. PTBS steht für posttraumatische Belastungsstörung. Nach der Ausbildung darf das Tier das Mädchen in die Schule begleiten. „Normalerweise ist eine Dogge kein Hund, der schlau ist“, sagt Bonert, „sondern ein dummes Brot auf vier Füßen.“ Das ist eine dieser Stellen, an denen Bonert kichert. „Dieser Hund aber ist soweit gut genug, dass man ihm die Ausbildung zutraut.“
Bonert kann aber auch bei Kleinigkeiten helfen. Einmal hat sie eigenhändig ein Schloss ausgetauscht für eine Frau, damit ihr Mann nicht mehr ins Haus kam.
„Ich habe viele böse Sachen gesehen, viele Tote, den Krieg in Jugoslawien.“
– Helen Bonert über ihre Zeit bei der Bundeswehr
Seit 2006 engagiert sich Bonert für den WEISSEN RING. Ein Jahr später wurde sie Leiterin der Außenstelle. Kurz zuvor war sie mit 55 in Pension gegangen, nach Jahrzehnten bei der Bundeswehr. „Dann ist urplötzlich Urlaub und der wird immer länger und kein Schwein ruft dich an. Wenn noch dein Mann stirbt, und der war gut, und der war richtig gut, dann werden dir die Beine weggezogen. Da kommt der Punkt, an dem du dich fragst: Was machst du mit deinem Leben? Du musst was machen, sonst gehst du kaputt.“ Sie suchte im Internet. Sie wollte was für sich tun. Sie wollte was für andere tun. Sie wollte was zu tun haben. Sie wollte selbst Entscheidungen treffen können, wie sie es von ihrem Beruf gewohnt war. „Das kann ich nun alles, teilweise 40 Stunden die Woche.“ Dass die Geschichten der Opfer sie zwar beschäftigen, aber nicht belasten, hat auch mit ihrer Zeit bei der Bundeswehr zu tun. „Ich habe viele böse Sachen gesehen, viele Tote, den Krieg in Jugoslawien.“
Als sie zur Bundeswehr ging, dort Elektrotechnik studierte und dann bei der Luftwaffe Karriere machte, hieß sie allerdings noch nicht Helen, sondern Armin Bonert. Frauen durften damals nur in der medizinischen Abteilung arbeiten. Bonert aber war biologisch noch ein Mann. Ein Electronic Warfare Officer, elektronische Kampfführung also, unter anderem dafür zuständig, das Transportflugzeug Transall innerhalb von 21 Tagen so umzubauen, dass es auf keinem Radar auftauchte. Zum Beweis landeten sie in unter Beschuss in Sarajevo. Bis nach China kam Bonert, horchte dort die Russen aus, wie sie sagt. „Ich habe einen Spezialauftrag bekommen, den hatte nur ich.“
Ihre Kinder durften weiter Papa sagen
Bonert heiratete zweimal, wurde zweimal Vater. Doch sie habe sich immer schon komisch gefühlt, aber „ich wusste nicht, warum ich so bin, wie ich bin.“ Es war noch nicht die Zeit, in der man im Internet mal kurz nachschauen konnte, was mit einem los ist. Erst mit Mitte 40 erfuhr Bonert, dass es so etwas gibt: Transsexualität oder Transidentität. Geboren im falschen Körper. Nun musste etwas passieren. Sie vertraute sich ihrem Chef an, der sprach mit seinem Chef. Bonert war der erste bekannte Fall von Transidentität bei der Bundeswehr. Sie bekam ein Jahr Krankschreibung für die Behandlung, die Operationen, den Weg von Armin zu Helen. Helen war der Name, den ihre Mutter für den Fall vorgesehen hatte, dass sie ein Mädchen auf die Welt bringen würde. „Kim hätte nicht gepasst“, sagt Bonert.
Ihre Kinder durften weiter Papa sagen, für alle anderen hieß sie fortan Helen. „Ich habe einen 70-Seiten-Essay geschrieben, wie ich in der Bundeswehr behandelt werden möchte“, sagt Bonert. Diskriminiert fühlte sie sich dort nie. Nur einmal sah sie ein Stabsoffizier doof an. „Den habe ich zu einem Gespräch eingeladen. Der kam mit seiner Meinung rein in mein Büro und mit meiner wieder raus.“ Bei der Luftwaffe konnte sie nach dem Abschluss der geschlechtsangleichenden Operationen 1999 nicht bleiben, nur der Sanitätsdienst war offen für Frauen. „Ich war froh, dass ich nicht gehen musste.“ Dort war sie für alle bildgebenden medizinischen Verfahren der Bundeswehr zuständig, Röntgengeräte, Mikroskope. „Den höchsten militärischen Orden habe ich als Frau bekommen, nicht als Mann.“
„Wir sind mildtätig und gemeinnützig, aber dumm sind wir nicht.“
– Helen Bonert
Die Arbeit im Ehrenamt hat ihr dann eine neue Aufgabe gegeben. Manchmal wünscht sie sich allerdings ein wenig mehr Anerkennung. „Danke zu sagen, ist sehr oft schwierig. Viele Opfer sagen hinterher sogar, sie könnten nicht Danke sagen. Aber dann geht am Ende des Jahres die Schelle, und jemand steht da mit einem Blumenstrauß.“
Es gibt auch Menschen, die bei ihr anrufen und am Ende unzufrieden sind. „In vielen Fällen haben sie Geld erwartet und keines bekommen. Wenn Leute finanzielle Erwartungen äußern, bin ich knochenhart. Dann kriegen die nichts. Wir sind mildtätig und gemeinnützig, aber dumm sind wir nicht.“ Sie hat mal die Betreuung eines Opfers abgebrochen, als eine Mitarbeiterin von dem Mann sexuell angegangen wurde. „Es gibt aber auch einfach Leute, die kommen mit meiner Art nicht klar“, sagt sie.
Zwei Jahre will Bonert noch die Anrufe entgegennehmen, dann soll Schluss sein. „Ich erziehe gerade meine Stellvertreterin. Wenn sie laufen kann, höre ich auf.“
Sebastian Dalkowski